Armut in Deutschland:Das brennende Gefühl der Ohnmacht

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Ohne staatliche Hilfe wäre jeder vierte Deutsche arm. Warum es mehr Bedürftige gibt, obwohl die Zahl der Arbeitslosen gesunken ist.

Silke Lode

Armut in Deutschland hat ein Gesicht: Vor allem Langzeitarbeitslose, Geringqualifizierte und Kinder, deren Eltern keinen Job haben, sind arm. Die Zahlen des dritten Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung, dessen Entwurf Arbeitsminister Olaf Scholz (SPD) am Montag in Berlin vorgestellt hat, sind erschreckend: Ohne staatliche Hilfe wäre jeder vierte Deutsche arm.

Plattenbauten in der Großstadt - während die Zahl der Superreichen steigt, gleiten immer mehr Deutsche in ärmliche Lebensbedingungen ab (Foto: Foto: ddp)

Sozialleistungen wie das Arbeitslosengeld II, Kinder- oder Wohngeld senken zwar die Zahl jener, die "einem erhöhten Armutsrisiko ausgesetzt sind", so die vorsichtige Formulierung des Berichts, doch immer noch 13 Prozent der Bevölkerung sind von Armut bedroht. Der Armutsbericht bezieht sich dabei auf eine EU-Definition, laut der in Deutschland einem Armutsrisiko ausgesetzt ist, wer weniger als 781 Euro netto im Monat verdient, das sind 60 Prozent des mittleren Einkommens.

Der Schlüssel zur Armutsvermeidung ist laut dem Bericht eine "sozial abgesicherte vollzeitnahe Beschäftigung". Doch zugleich belegt der Bericht, dass der Rückgang der Arbeitslosigkeit allein das Problem nicht löst: Von 5,29 Millionen im Februar 2005 sei die Zahl der Arbeitslosen auf 3,77 Millionen im Jahr 2007 zurückgegangen.

Zugleich nehme jedoch die Ungleichverteilung des Einkommens zu. Während höhere Einkommen gestiegen seien, seien die Gehälter in den niedrigen Einkommensgruppen gesunken. Insgesamt seien die Bruttolöhne in den Jahren zwischen 2002 und 2005 von 24.873 Euro auf 23.684 Euro um fast fünf Prozent zurückgegangen. Der Armutsbericht macht dafür unter anderem die stark sinkende Tarifbindung in Deutschland verantwortlich.

Auch Erwerbstätige sind mehr und mehr von Armut betroffen. "Mit Sorge" betrachte die Bundesregierung die Zunahme von Jobs, die zwar eine Vollzeitbeschäftigung bieten, aber dennoch im Niedriglohnbereich angesiedelt sind. 2005 hätte jeder dritte Angestellte mit seinem Verdienst die Niedriglohnschwelle von zwei Dritteln des durchschnittlichen Bruttoeinkommens nicht überschritten.

Armut als sich selbst verfestigender Prozess

Besonders groß sei das Armutsrisiko für Kinder: Zwölf Prozent aller Kinder seien betroffen, wieder sind es nur staatliche Sozialleistungen, die diese Quote niedrig halten, sonst wäre mehr als jedes dritte Kind von Armut bedroht. Besonders hart trifft es Familien, in denen kein Elternteil arbeitet: 48 Prozent seien einem Armutsrisiko ausgesetzt.

"Für die Kinder heißt das nicht, dass sie hungern müssen", sagt der Wirtschaftswissenschaftler Ronnie Schöb von der Freien Universität Berlin. "Aber wenn beide Eltern nicht arbeiten, fehlt ein wichtiges Rollenvorbild in ihrem Erfahrungsschatz: Jemand, der morgens aus dem Haus geht, arbeitet und abends wieder heimkommt." Dies mindere die Motivation für einen Schulabschluss und trage dazu bei, dass Armut ein sich selbst verfestigender Prozess werde.

Voraussetzung für gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt ist laut Bericht gute Bildung - doch um die Chancengleichheit steht es in Deutschland nicht gut: Zwar studieren 83 Prozent der Kinder, deren Väter einen Hochschulabschluss haben, jedoch nur 23 Prozent der Kinder von Nichtakademikern beginnen ein Studium.

Kaffee trinken oder Kopfweh vortäuschen und sparen?

Laut Schöb ist vor allem das langsame Abdriften in die Armut für die Betroffenen ein Problem, etwa wenn sie spüren, dass sie sich vor einem Jahr noch einen anderen Lebensstandard als heute leisten konnten. "Die Menschen fragen sich, ob man am Wochenende mit dem Nachbarn einen Kaffee trinken gehen soll oder Kopfweh vortäuscht und spart."

Der Armutsbericht bestätigt, dass arme Menschen weniger in die Strukturen der Zivilgesellschaft eingebunden sind - sei dies in Sportvereinen, Stadtteilinitiativen oder politischen Parteien. Auch auf die Gesundheit hat Armut negative Auswirkungen: Die Chancen auf einen guten Gesundheitszustand halbieren sich, so der Bericht.

Arbeitsminister Olaf Scholz will den Armutsbericht trotzdem als Erfolg werten: Er zeige, dass die sozialstaatlichen Hilfen wirken, weil sie höhere Armutsquoten verhindern.

© SZ vom 20.5.2008/ihe - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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