Armut:"Ich finde Spahns Aussage unüberlegt"

Koalitionsverhandlungen von Union und SPD

Hartz IV bedeute nicht Armut, sondern sei die Antwort der Solidargemeinschaft auf Armut, findet Jens Spahn.

(Foto: dpa; Bearbeitung SZ)

Auch ohne Tafeln müsse in Deutschland niemand hungern, sagt der künftige Gesundheitsminister Jens Spahn. Wir haben einen Langzeitarbeitslosen nach seiner Meinung gefragt.

Interview von Barbara Galaktionow

Niemand müsse in Deutschland hungern, wenn es die Tafeln nicht gäbe, hat der designierte Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) in einem Interview gesagt. Deutschland habe "eines der besten Sozialsysteme der Welt". Hartz IV bedeute nicht Armut, sondern sei die Antwort der Solidargemeinschaft auf Armut. Wie sieht das ein Mensch, der von Hartz IV lebt? Wir haben mit Alexander E. gesprochen, der schon seit Bestehen des Hartz-IV-Systems im Jahr 2004 weitgehend von der Sozialleistung lebt und über Eingliederungsmaßnahmen immer wieder versucht, langfristig eine reguläre Arbeit zu bekommen.

SZ: Hartz IV bedeute nicht Armut, findet Jens Spahn. Wenn Sie das hören, möchten Sie Herrn Spahn etwas sagen?

Alexander E.: Das ist eine Heuchelei!

Politiker von Grünen und Linken werfen Spahn vor, überheblich und arrogant zu sein. Empfinden Sie das auch so?

Ich finde die Aussage vor allem unüberlegt. Es weist darauf hin, dass Herr Spahn sich nie in der Situation befunden hat, dass er Regelsatzempfänger war. Und es ist eine sehr pauschalisierte Aussage. Eine Familie, die Hartz IV bekommt, kann damit vielleicht gerade irgendwie überleben. Doch vor allem die Kinder haben wahrscheinlich schwer daran zu knabbern, wenn sie mit anderen nicht mithalten können. Da gibt es eben nie eine Levi's, wie sie andere Kinder tragen.

Zu Alexander E.

Der heute 44-Jährige lebt seit vielen Jahren von Hartz IV, wenn auch mit Unterbrechungen. Über neue Qualifikationen, Ein-Euro-Jobs oder Zeitarbeit versucht E. immer wieder, einen regulären Job zu finden. So machte er unter anderem einen Gabelstaplerführerschein und einen Schein für das Bewachungsgewerbe. Zuletzt wurde er in einem europäischen Förderprogramm für Langzeitarbeitslose in Landschafts- und Gartenarbeit geschult und machte gleichzeitig seinen Führerschein. Da das Thema so sensibel ist, möchte er seinen vollen Namen nicht nennen.

Und Sie als Erwachsener?

Die Lebensqualität ist natürlich beschnitten. Als Einzelperson kann man, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind, mit Hartz IV auskommen. Ich bin ein sogenannter Foodsaver bei einer Initiative gegen Lebensmittelverschwendung. Wir holen bei Betrieben, die mit uns koopieren, Lebensmittel ab, die dort nicht mehr benötig werden, und verteilen diese mehrmals die Woche, ähnlich wie bei den Tafeln. Bei uns bekommen die Lebensmittel aber alle Leute, die kommen, es gibt keine Berechtigungsscheine und man muss auch nichts bezahlen. Über diesen Weg kann man dann mit dem Regelsatz zurechtkommen.

Aber eben nicht allein über den Regelsatz von Hartz IV?

Nein, das geht nicht. Ich denke, wenn man sich allein über den Regelsatz ernähren muss, führt das über kurz oder lang zu Mangelerscheinungen.

Am 13. März vor 15 Jahren präsentierte der damalige Kanzler Gerhard Schröder im Bundestag erstmals seine "Agenda 2010". Knapp zwei Jahre später trat das Kernstück der Agenda, nämlich Hartz IV, in Kraft. Sie haben damals nach dem alten System Arbeitslosenhilfe bezogen und sind dann unmittelbar ins Hartz-System gerutscht. Hat die Umstellung für Sie persönlich einen Unterschied bedeutet?

Ich hatte den Eindruck, dass ich vom Jobcenter mehr gegängelt wurde. Ich hatte zum Beispiel eine recht günstige Wohnung mit 37 Quadratmetern, die 189 Euro gekostet hat. Eine günstigere Wohnung kriegt man eigentlich kaum. Und trotzdem habe ich dann vom Jobcenter ein Schreiben erhalten, die Wohnung sei zu teuer, ich solle mich doch nach einer anderen umsehen. Das war offenbar so ein Pauschalschreiben, das da rausgegangen ist. Ich konnte einen Umzug zum Glück abwenden.

Bedeutete die Umstellung für Sie auch weniger Geld?

Es war definitiv weniger. Das hing auch damit zusammen, dass eigene Sparsamkeit in bestimmten Bereichen einem nicht mehr weitergeholfen hat, beispielsweise beim Strom- oder Wasserverbrauch. Wenn man da weniger verbraucht hatte und nach den Jahresabrechnungen Geld herausbekam, musste man das nun der Agentur für Arbeit angeben und auszahlen. Aber wenn man etwas mehr verbraucht hatte, musste man das aus eigenen Mitteln zahlen.

Und das war früher anders?

Früher gab's da mehr Kulanz.

Der frühere Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD) verdächtigte ja schon 2005 Hartz-IV-Empfänger pauschal der "Abzocke und Selbstbedienung im Sozialstaat". Über all die Jahre hinweg, haben Sie den Eindruck, dass Hartz IV das Klima in der Gesellschaft verändert hat?

Ich denke schon. Heute ist jeder darauf bedacht, was er selber hat. Jeder versucht, vor allem seine Sachen zusammenzuhalten. Viele werden auch ein bisschen argwöhnisch gegenüber den Mitmenschen. Ich gucke ja immer, dass ich möglichst freundlich bleibe.

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