Armenien:Eriwan in Unruhe

Soziale Proteste erschüttern Armenien. Auslöser ist der höhere Strompreis, den Russland verlangt. Eine Annäherung an die EU hat die Regierung vorläufig gestoppt.

Von Julian Hans, Moskau

Ärger über mangelnde wirtschaftliche Perspektiven, Korruption und Arroganz der Macht haben in Armenien Proteste ausgelöst. Am vierten Tag in Folge gingen am Mittwoch wieder Tausende überwiegend junge Menschen auf die Straßen im Zentrum der Hauptstadt Eriwan. Sie bauten Barrikaden aus Müllcontainern. Dennoch blieb es - anders als in den ersten Nächten - zunächst friedlich.

In der Nacht zum Dienstag hatte die Polizei die Demonstranten mit Wasserwerfern auseinandergetrieben und mehr als 230 Menschen vorübergehend festgenommen.

Personen, die das Vorgehen filmten, wurden ebenfalls von der Polizei abgeführt, einige berichteten, sie seien geschlagen worden. Die OSZE rief die armenische Führung dazu auf, diese Vorfälle zu untersuchen und Journalisten nicht an der Berichterstattung zu hindern.

Auslöser für die Proteste war eine Erhöhung des Strompreises. Das Energie-Unternehmen Inter RAO, das in russischer Hand ist, hat ein Monopol auf dem armenischen Markt. Das Parlament hatte einem Antrag von Inter zugestimmt, die Preise anzuheben, obwohl sich das Land in einer Wirtschaftskrise befindet. Etwa ein Drittel der Armenier lebt unter der Armutsgrenze.

Das Land lebt zu einem guten Teil von den Überweisungen der Auswanderer

Seit Jahrzehnten währende Konflikte mit den Nachbarstaaten haben Armenien weitgehend isoliert. Die Grenze zu Aserbaidschan und zur Türkei sind geschlossen. Die seit über einem Jahr andauernde Wirtschaftskrise in Russland hat Armenien nun zusätzlich getroffen. Von geschätzten acht Millionen Armeniern weltweit leben nur etwa drei Millionen in Armenien. Die Überweisungen der im Ausland lebenden Verwandten machen etwa 20 Prozent des armenischen Bruttoinlandsprodukts aus. Zentren der Diaspora sind die USA und Russland.

Wegen der Krise sind die Überweisungen aus Russland zurückgegangen. Obwohl sie keine gemeinsame Grenze haben, sind beide Länder aus den Zeiten, als Armenien noch eine Sowjetrepublik war, wirtschaftlich eng miteinander verbunden. Die Abwertung des Rubel im vergangenen Herbst, ausgelöst durch den gesunkenen Ölpreis, hat auch den armenischen Dram in Mitleidenschaft gezogen.

Wie mit der Ukraine hatte die Europäische Union (EU) auch mit Armenien über ein Assoziierungsabkommen verhandelt.

Bei einem Besuch in Moskau im September 2013 verkündete Armeniens Präsident Sersch Sargsjan indes überraschend, sein Land werde der von Russland geführten Eurasischen Wirtschaftsunion beitreten.

Anders als später in der Ukraine hatte der überraschende Schwenk Eriwans keine Proteste im Land hervorgerufen. Der Grund dafür, dass die Armenier eine Bindung an Russland befürworten, liegt mehr in Sicherheitsfragen als in der Wirtschaft oder der politischen Ausrichtung begründet: Seit dem Waffenstillstand 1994 hat das Nachbarland Aserbaidschan massiv aufgerüstet, dank des Öl-Booms im vergangenen Jahrzehnt kann Baku mehr Geld für Verteidigung ausgeben, als das rohstoffarme Armenien für seinen gesamten Staatshaushalt zur Verfügung hat.

Das militärische Gleichgewicht mit dem verfeindeten Nachbarland kann daher nur aufrechterhalten werden, weil russische Truppen in Armenien stationiert sind. Indem Moskau einerseits Waffen an Aserbaidschan verkauft und andererseits durch seine Präsenz in Armenien einen Grund herstellt, diese Waffen besser nicht anzuwenden, hat es sich in der Region nahezu unverzichtbar gemacht. Russische Grenzschützer helfen zudem, die Grenze zum Nachbarn und Nato-Mitglied Türkei zu bewachen. Nachdem ein junger Soldat der russischen Armee im Januar bei einem Amoklauf nördlich von Eriwan sieben Menschen tötete, wird immer wieder auch Kritik an der Präsenz der Russen laut.

Bei Demonstrationen waren vereinzelt EU-Fahnen zu sehen

Bei den Protesten Anfang der Woche schwenkten die Demonstranten neben armenischen auch einzelne Europa-Fahnen. Gleichwohl richtet sich der Protest bislang nicht gegen die Verbindung mit Russland, sondern gegen die eigene Regierung, die nicht in der Lage ist, eine wirtschaftliche Perspektive aufzuzeigen.

Die etablierten Oppositionsparteien in Armenien sind durch Korruption und Vetternwirtschaft nicht weniger in Verruf geraten als die Regierung. Getragen werde die Bewegung überwiegend von jungen Aktivisten, die bisher nur am Rand eine Rolle in der armenischen Politik spielten, erklärt Richard Giragosian, der in Eriwan das Zentrum für Regionale Studien leitet. Diese hätten in der Vergangenheit zwar einzelne Aktionen veranstaltet, "jetzt ist von der Erhöhung der Strompreise aber die gesamte Bevölkerung betroffen, deshalb haben sie zum ersten Mal eine breite Unterstützung". Dies sei ein "Wendepunkt für die sozialen Bewegungen in Armenien".

Die Preiserhöhung sei nur der Auslöser gewesen, glaubt Giragosian. Vorher seien mehrere Faktoren zusammengekommen: "Die Enttäuschung über die abgesagte Annäherung an die EU, das Ungleichgewicht in den russisch-armenischen Beziehungen und der Ärger über Korruption und schlechte Regierungsführung." Dieser komplexe Hintergrund mache es für die Regierung schwer, den Demonstranten entgegenzukommen: "Eine Rücknahme der Preiserhöhungen wird nicht genug sein."

In den nächsten Tagen muss sich zeigen, ob die armenische Führung in der Lage ist, mit solchen ungewohnten Herausforderungen umzugehen. "Es besteht die Gefahr, dass die Regierung überreagiert und damit die Situation eskaliert", warnt Giragosian. Immerhin hat die Polizei inzwischen ihre Taktik geändert: Statt mit Schlagstöcken und Wasserwerfern gegen die Demonstranten vorzugehen, lässt sie die Versammlungen zu - in der Erwartung, dass sich der Protest auf die Dauer totläuft.

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