Argentinien:Täter ohne Opfer

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Wo ist Santiago? Demonstration am 1. September auf der Plaza de Mayo in Buenos Aires. (Foto: Juan Mabromata/AFP)

Die Suche nach dem Menschenrechtsaktivisten Santiago Maldonado ist noch ergebnislos, da geben viele Argentinier der Polizei bereits die Schuld an seinem Tod. Für Präsident Macri ist das gefährlich.

Von Boris Herrmann, Rio de Janeiro

Seit einem Monat fehlt von dem Argentinier Santiago Maldonado, 28, jede Spur. Man hat versucht, seine Handys zu orten. Man hat nach Haaren, Blutflecken und DNA gesucht. Nichts. Keine Leiche, kein Lebenszeichen. Die Frage nach seinem Schicksal beschäftigt das ganze Land: Wo ist er? Die Antworten sind oft Verschwörungstheorien; in dem Metier macht den Argentiniern niemand etwas vor.

Nach Lage der Dinge ist Santiago Maldonado einer der zahllosen Menschen, die in Lateinamerika Jahr für Jahr spurlos verschwinden. Häufig trifft es Flüchtlinge, Menschenrechtsaktivisten, Umweltschützer, Journalisten. Oder Personen, die zur falschen Zeit am falschen Ort sind - wenn Drogen die Besitzer wechseln. Von den meisten Verschwundenen nimmt kaum einer Notiz, der "Caso Maldonado" jedoch ist auf dem Weg zur Staatsaffäre.

Ähnlich wie der nie aufgeklärte Todesfall des Staatsanwalts Alberto Nisman vor zweieinhalb Jahren hat der Fall Maldonado das Zeug zu einem argentinischen Krimi: kaum Fakten, mysteriöse Zeugenaussagen, Ermittler, die im Dunkeln tappen. Der Fall wird von allen Seiten politisch instrumentalisiert. Das Volk traut den Volksvertretern fast jede Scheußlichkeit zu.

Zehntausende zogen am Freitagabend protestierend durch Buenos Aires, zunächst friedlich, später gab es Ausschreitungen und Verletzte. Der Marsch endete vor dem Präsidentenpalast an der Plaza de Mayo. Santiago Maldonados Bruder trat auf, machte die Regierung von Mauricio Macri verantwortlich und forderte den Rücktritt der Sicherheitsministerin Patricia Bullrich. "Mörder, Mörder", riefen einige Demonstranten in der Menge.

Maldonado half den Mapuche. Das indigene Volk kämpfte um Land - gegen die Firma Benetton

Noch ist nicht sicher, ob Maldonado tot ist. Fest steht, dass er zuletzt in Patagonien die indigene Mapuche-Gemeinschaft "Pu Lof en Resistencia" bei ihrem Widerstand gegen die Staatsgewalt und den Kapitalismus unterstützte. Die Mapuche kämpfen seit Jahren erbittert um ihre Felder und Weiden - mit der italienischen Firma Benetton, einem der größten Landeigner in Argentinien. Seit einem Polizeieinsatz in dem Konflikt am 1. August wird Maldonado vermisst. Zwei vermummte Mapuche sagten aus, die Gendarmería habe ihn verschleppt. Ein Großteil der Argentinier, unter ihnen auch die ehemalige Präsidentin Cristina Kirchner, ist davon überzeugt, dass die Polizisten Maldonado getötet und seine Leiche in den endlosen Weiten Patagoniens versteckt haben. Die Beamten bestreiten das, und die Regierung unter Mauricio Macri steht zu ihnen. Macris Sympathisanten hantieren mit der Hypothese, Maldonado habe sich schon vor dem Polizeieinsatz nach Chile abgesetzt. Wer was glaubt, hängt meist davon ab, zu welchem Lager er zählt. Beweise gibt es keine.

Die Protestwelle, die am Freitag über die Straßen von Buenos Aires schwappte, hat sich im Netz aufgebaut. Schon seit Wochen wächst dort der Widerstand. Auch die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte verlangt von der Regierung, den Fall rasch aufzuklären. Sogar der Fußball-Nationaltrainer Jorge Sampaoli hat sich geäußert, vor einem wichtigen WM-Qualifikationsspiel: "Als Argentinier, die wir alle diese Epoche hinter uns haben, stört es ein bisschen, dass dieses Thema nicht geklärt ist." Mit "dieser Epoche" meinte er die Militärdiktatur.

Seit dem Regime der Militärjunta reagieren Argentinier sensibel auf das Verschwinden von Mitbürgern. Bis zur Hysterie ist es da manchmal nur ein kleiner Schritt. Zwischen 1976 und 1983 wurden Regimegegner systematisch verfolgt, gefoltert, getötet. Etwa 30 000 Menschen verschwanden spurlos. Wie auch immer der Fall Maldonado liegt - die Regierung Macri wehrt sich dagegen, mit der Militärjunta gleichgesetzt zu werden. Genau das aber passiert jetzt immer häufiger, das Land steckt im Wahlkampf für die wichtigen Parlamentswahlen im Oktober. Falls die Leiche des jungen Mannes bis dahin auftaucht, und falls sie Zeichen trägt, die auf seinen gewaltsamen Tod schließen lassen - dann hat Macri ein gewaltiges Problem.

© SZ vom 04.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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