ARD-Wahlarena zur Europawahl:Juncker gibt sich "fanatisch" - Schulz ganz dankbar

Jean-Claude Juncker und Martin Schulz in der Wahlarena

Jean-Claude Juncker (r.) und Martin Schulz scherzen vor Beginn der "Wahlarena".

(Foto: dpa)

Chlorhühnchen, Wasser-Privatisierung und Datenschutz: In der "Wahlarena" dominiert das Freihandelsabkommen TTIP die Debatte. Die Spitzenkandidaten Juncker und Schulz versprechen, Europas Werte gegen die USA zu verteidigen. Juncker wirkt entschlossener - aber bisweilen arrogant.

Von Michael König und Matthias Kolb

Im Hintergrund schieben sich dicke Pötte durchs Bild, Containerschiffe auf dem Weg in den Hamburger Hafen. Vorne, im TV-Studio des NDR direkt an der Elbe, gehen Martin Schulz und Jean-Claude Juncker aufeinander zu. Der Abspann läuft, die Sendung ist vorbei. Die beiden Spitzenkandidaten für die Europawahl geben einander nicht die Hand, wie es Politiker in solchen Situationen häufig tun. Sie klatschen ab, wie es Sportler nach einem leistungsgerechten Unentschieden machen.

Juncker und Schulz wollen ans Steuerrad eines dicken Pottes, sie wollen die EU als Kommissionspräsident anführen. Juncker als Politiker der Europäischen Volkspartei, der CDU und CSU angehören, Schulz als Sozialdemokrat. Am Sonntag haben 410 Millionen Europäer die Wahl zwischen ihnen - und den Kandidaten einiger kleinerer Parteien. Aber die gehen in diesem Wahlkampf unter, weil er erstmals als Zweikampf angelegt ist. Als Duell.

Juncker gegen Schulz, das lässt sich im Fernsehen gut verkaufen. Anfang Mai standen die beiden in ZDF und ORF zwei Moderatoren gegenüber. Diesmal sind die Spielregeln, nun ja: demokratischer. 200 repräsentativ ausgewählte Zuschauer werden auf Schulz und Juncker losgelassen. "Überlegen Sie sich gut, wen Sie foltern wollen", sagt Sonia Seymour Mikich, die gemeinsam mit Andreas Cichowicz durch die Sendung führt.

Die ARD hat gute Erfahrungen mit der "Wahlarena" gemacht. Im Herbst 2013 kam Angela Merkel hier in Bedrängnis - vielleicht zum einzigen Mal im Bundestagswahlkampf. Das Thema damals: die Homo-Ehe, da kochten die Emotionen hoch. Vor der Europawahl bewegt das Freihandelsabkommen TTIP die Menschen am meisten - trotz der Ukraine-Krise, des zunehmend autoritären Kurses der Türkei und der umstrittenen EU-Flüchtlingspolitik, die in der Sendung nur kurz angesprochen werden. "Das Thema TTIP brennt", sagt Moderatorin Seymour Mikich.

"Über Datenschutz wird nicht verhandelt"

TTIP alias "Transatlantic Trade and Investment Partnership" löst bei vielen Bürgern schlimme Assoziationen aus. Chlorhähnchen, Schiedsgerichte hinter verschlossenen Türen, noch mehr Kapitalismus. Insgesamt vier Mal - inklusive Nachfragen - müssen Juncker und Schulz erklären, wie sie Europas Demokratie und die Bürgerrechte verteidigen wollen. Nur wenn die europäischen Standards in Sachen Datenschutz und soziale Sicherheit gewahrt blieben, dürfe die EU mit den USA das TTIP-Freihandelsabkommen verabschieden, versichert Schulz. Dass er die Rolle des EU-Parlaments als Wachhund (Acta-Abkommen gestoppt, Swift-Bankdaten-Abkommen ausgesetzt) hervorhebt, ist korrekt - und hilft ihm persönlich, schließlich steht Schulz seit zwei Jahren dem EU-Parlament vor.

Auch Juncker weiß, wie sehr das Thema TTIP die Menschen aufwühlt. Er betont: "Über Datenschutz wird nicht verhandelt." Dabei ist der Konservative eigentlich ein Befürworter des Abkommens, weil es angeblich Hunderttausende Arbeitsplätze bringt. Das sagt er auch in der Sendung, ohne dafür kritisiert zu werden. Punkten kann er bei der Nachfrage einer Mutter und Großmutter aus Niedersachsen, die sich Sorgen wegen der drohenden Privatisierung der Wasserversorgung macht. In dieser Frage sei er "sehr deutsch", sagt der Luxemburger. "Ich werde fast fanatisch, wenn es um dieses Thema geht. Wasser gehört in die öffentliche Hand."

Die Idee der Privatisierung stammt aus Amerika - und so wird Washington zum Ziel heftiger Kritik. Juncker fordert: "Die USA müssen nicht nur abhören, sondern auch mal zuhören." Schulz merkt besorgt an, er habe den Eindruck, dass der Geheimdienst NSA die US-Politik kontrolliere - und nicht umgekehrt, wie es sein sollte. Mit seinem Fazit verschafft sich Juncker einen knappen Vorsprung: "Europa ist der Kontinent des Datenschutzes."

Schulz will Einfluss von Lobbyisten eindämmen

An anderer Stelle wird vom Publikum durchaus auch weniger Datenschutz gefordert - nämlich für die Staats- und Regierungschefs. Ihr Gremium auf EU-Ebene, der Europäische Rat, solle nicht mehr hinter verschlossenen Türen tagen, um mehr Transparenz zu schaffen. So will es ein Fragesteller aus Essen. Er fordert öffentliche Sitzungen, am besten mit Live-Übertragung. Moderator Cichowicz bittet um eine kurze Antwort.

Juncker watscht sie beide ab. Kurz antworten? Pah! Europa sei nun mal kompliziert, mahnt Juncker und doziert: "Ich war lange Jahre Mitglied im Europäischen Rat und ich bin strikt dagegen, dass er öffentlich tagt". Warum? Die Sitzungen anderer Gremien würden im Internet übertragen - aber niemand interessiere sich dafür. Außerdem bräuchten Politiker die Möglichkeit, vertraulich miteinander zu reden.

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Der Konservative läuft Gefahr, dass ihm seine Meinungsstärke als Arroganz ausgelegt wird. Schulz muss die Frage nicht beantworten, aus Rücksicht auf die Redezeit. Ob er gerne vor laufenden Kameras mit den mächtigen Staats- und Regierungschefs verhandeln würde? Das bleibt offen. Stattdessen soll er einem Berliner erklären, was er gegen den enormen Einfluss von Lobbyisten zu tun gedenke. Schulz verweist auf das Transparenzregister zur Überwachung von Interessenvertretern. Der Sozialdemokrat will den Wirkungsbereich ausweiten - der Fragesteller nickt. Punkt für Schulz, auch wenn er vage bleibt. Während Juncker oft giftig wirkt, erscheint der Sozialdemokrat zum Teil übertrieben höflich. Mehrmals bedankt er sich bei den Zuschauern für ihre Fragen.

"Mir reicht es, dass ich nass werde"

Duschköpfe sind die neuen Gurken, also das Symbol für die angeblich ausufernde Regulierungswut der EU. Das hat schon das TV-Duell gezeigt und die ARD-Wahlarena bestätigt es. Dass die EU-Kommission derzeit prüft, ob für wasserverbrauchende Geräte eine Kennzeichnungspflicht oder Effizienzvorgaben eingeführt werden sollen, ist für Jean-Claude Juncker ein Fall von Bürokratie-Irrsinn. "Mir reicht es, dass ich nass werde. Wie das Wasser in den Duschkopf kommt, ist mir egal", schimpft der Konservative und bekommt viel Applaus.

Ein älterer Herr hatte gefragt, wie die Verbindung zwischen Brüssel und den Unionsbürgern verbessert werden könne. Juncker nutzt das für seine Abrechnung - Schulz für mahnende Worte. Die jeweils kleinste Instanz solle sich kümmern, sagt er und spricht über eine Ausschreibung in Hannover. Der Fragesteller blickt ratlos drein - der Punkt geht an Juncker.

"Ich lasse mich nicht von Extremisten und Rassisten wählen"

Es sind gerade die Anti-Europa-Populisten wie der Niederländer Geert Wilders oder die Französin Marine Le Pen, die vom allgemeinen Frust der Bürger profitieren wollen und in vielen Ländern enorme Zuwächse erreichen könnten (eine Übersicht der Europaskeptiker finden Sie hier). Würden sich Schulz und Juncker von Abgeordneten der UKIP, der Schwedendemokraten oder des Front National zum EU-Kommissionschef wählen lassen? Das will eine Frau wissen.

Hier bekommt Juncker den großen Applaus, weil er als Erster antworten kann: "Ich würde eine solche Wahl nicht annehmen, denn ich lasse mich nicht von Extremisten und Rassisten wählen." Da kann Schulz nur zustimmen - und versucht, die Deutschen am Sonntag an die Wahlurnen zu locken. Je höher die Wahlbeteiligung, umso schwerer wird es für die rechtsextreme NPD, Abgeordnete nach Straßburg zu schicken - dies ist nach der Abschaffung der Drei-Prozent-Hürde nun ziemlich leicht. Das Argument ist richtig und wichtig - aber Juncker hinterlässt den stärkeren Eindruck.

Beim Thema Freizügigkeit - und der damit verbundenen Diskussion um angebliche Armutszuwanderung - wird es schwierig für Juncker. Menschen müssten sich in der EU wie bisher frei bewegen können - dies sei ein zentrales Grundrecht. Es reiche völlig aus, wenn die einzelnen Mitgliedsstaaten Vorkehrungen gegen Missbrauch treffen würden, sagt Juncker, und relativiert viele Sorgen: Schließlich lebten nur weniger als drei Prozent der EU-Bürger in einem anderen Staat. Die Aussage ist vernünftig und passt zu einem Luxemburger - die Menschen im Großherzogtum sind es gewohnt, dass Menschen nicht nur aus den direkten Nachbarstaaten in ihrem Land leben und arbeiten.

Hier ergreift Martin Schulz seine Chance, den politischen Gegner zu ärgern. Er wolle unbedingt zu Protokoll geben, sagt der SPD-Mann, dass sich Juncker als Konservativer eindeutig von der CSU unterscheide. Diese hatte bekanntlich im Winter mit dem Slogan "Wer betrügt, der fliegt" die deutsche Debatte entfacht. Weil Juncker hier Eigenständigkeit beweist, bekommt er ein vergiftetes Lob von Schulz: "Herr Juncker widerspricht der CSU, das finde ich gut." Also Vorsprung für den Sozialdemokraten.

Zu wenig Witz und Vision

Am Ende der Wahlarena steht Juncker zumindest nicht schlechter da als im TV-Duell. An diesem Abend wirkt er häufig entschlossener als Schulz, zum Teil auch gewitzter. Als der letzte Fragesteller der Sendung jedoch die Phantasie der beiden Kandidaten anregen will, da scheitern sie beide.

"Wenn Sie König von Europa wären, was würden Sie machen? Sie haben drei Wünsche frei", lautet die Frage sinngemäß. Schulz könnte jetzt seinen Heimat-Klub Rhenania Würselen zum Sieger der Fußball-Champions-League machen, Juncker Lëtzebuergesch zur einzigen Amtssprache erklären. Sie könnten auch beide Wohlstand für alle herbeireden, aber dafür fehlen jetzt, am Ende der 75-minütigen Sendung, Witz und Vision. Schulz spricht nochmal über Jugendarbeitslosigkeit, die Banken und die Diplomatie. Juncker setzt auf Wachstum und faire Steuern.

Dann ist die Sendung vorbei, beide klatschen einander ab. Sie wollen keine Könige sein, aber den dicken Pott lenken, das wollen sie doch. Am Sonntag ist Europawahl.

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