Archtitektur:Die Provinz ist die Zukunft

Mehr als die Hälfte der Menschen leben in Städten. Deshalb glauben viele, dass dort unser Leben bestimmt wird. Doch die Umbrüche, die derzeit auf dem Land stattfinden, könnten die Gesellschaften weitaus nachhaltiger verändern.

Von Rem Koolhaas

Die moderne Welt ist besessen von Städten. Mehr als die Hälfte der Menschen lebt inzwischen dort, auch deshalb konzentriert sich die Architektur vor allem auf die Metropolen. Sie werden als Motor für die Wirtschaft, aber auch als Antrieb zur Selbstverwirklichung und für den alles bestimmenden Lifestyle gesehen. Seit meinem Manifest "Delirious New York" von 1978 ist vermutlich auch meine Arbeit immer als Stadtplanung bewertet worden.

Im kommenden Jahr will ich aber all das erforschen, was nicht Stadt ist. Denn das Land ist ein blinder Fleck der Architektur. Doch schaut man genau hin, finden dort die Veränderungen derzeit wesentlich schneller und radikaler statt als in der Stadt, die ja in vielerlei Hinsicht eine eher altertümliche Form der Koexistenz von Menschen ist.

Diesen Zusammenhang habe ich zuerst in einem Schweizer Dorf im Engadin begriffen. Seit 25 Jahren besuche ich es regelmäßig, und die Veränderungen sind dramatisch. So sehr das Dorf in den vergangenen Jahren gewachsen ist, so sehr wurde es von innen heraus ausgehöhlt. Ein Mann, von dem ich immer dachte, er sei Bauer, erwies sich als ein frustrierter Nuklearwissenschaftler aus Frankfurt. Die Landwirtschaft selbst hatte er Arbeitern aus Sri Lanka überlassen, die Kühe waren von den Weiden verschwunden und mit ihnen auch der Geruch, der das Land ja prägt. Viele andere Häuser in dem Dorf sind von Städtern übernommen worden, die sich gemütlich eingerichtet haben, assistiert von Helfern, die in Malaysia, Thailand oder auf den Philippinen angeworben wurden. Viele dieser Häuser, die das Dorf haben wachsen und wachsen lassen, stehen die meiste Zeit leer. Nur zu den Ferienzeiten scheint der Ort zu explodieren.

Diese Erfahrung ist für mich der Auslöser, das Landleben genauer zu untersuchen. So viel kann ich jetzt schon sagen: Um die ständig wachsenden Städte mit Nahrung zu versorgen, um das Leben in den Metropolen aufrechtzuerhalten, ist das Land zu einem riesigen Hinterhof geworden, der mit einer unerbittlichen, kartesianischen Strenge organisiert ist. Dieses System wuchert in einem bislang beispiellosen Ausmaß. Die Veränderung, die damit einhergeht, ist radikal und allgegenwärtig. Weltweit manifestiert sie sich in den unterschiedlichsten Entwicklungen.

Die Mitte der USA zum Beispiel ist geprägt durch einen Landstrich, in dem über Satelliten gewonnene Informationen das Leben der Farmer maßgeblich bestimmen. Der repräsentiert ist dort den Boden, über ihn bekommen die Bauern präzises Wissen über jeden Quadratzentimeter ihres Farmlandes. Mit diesen Daten füttert der Landwirt dann seinen digital gesteuerten Traktor. Und zur Erntezeit fährt eine ganze Armada von modernsten Mähdreschern von Süden nach Norden. Jedes einzelne dieser Ungetüme ist so teuer, dass es 24 Stunden am Tag laufen muss, voll automatisiert und mit einer geradezu militärischen Präzision.

In Russland wiederum zeigen sich die massiven Veränderungen auf andere Art: Je mehr sich dort die Marktwirtschaft durchgesetzt hat, desto mehr schrumpft das einst dichte Netz der früher staatlichen Fluglinie Aeroflot zusammen. Städte, die mit dem Rest des Landes verbunden waren, sind nun auf sich zurückgeworfen und müssen sich neu erfinden - mit überraschenden Ergebnissen. In manchen Fällen hat das zu einer größeren Gelassenheit geführt: Der neuen Lage abgeschnitten vom Rest des Landes wird zum Beispiel mit einer wachsenden Zahl an Museen begegnet, die das Lokale betonen.

In Deutschland wurde überlegt, Flüchtlinge in sterbenden Regionen anzusiedeln

Überlagert wird die Entwicklung in Russland von den Folgen der Erderwärmung. Dadurch dass der Permafrostboden im Norden zunehmend auftaut, können umfangreiche Regionen zusätzlich landwirtschaftlich genutzt werden. Große Agrikultur-Unternehmen werden sich dort ansiedeln.

Andere Beispiele für die neue Rolle des Landes finden sich in Deutschland, wo überlegt wurde, Flüchtlinge anzusiedeln, um sterbende Regionen wiederzubeleben; oder in Afrika, wo chinesische Eisenbahnprojekte das Zentrum des Kontinents umgraben. Ähnlich den großen politischen Entwicklungsprogrammen der Diktatoren Stalin und Mao verändert auch die gemeinsame Agrarpolitik der EU die Provinz nachhaltig. Kurz gesagt: Das Land ist auf Gedeih und Verderb (häufig beides) allumfassend in die globale Modernisierung einbezogen.

Als Architekt bin ich auch von den greifbaren Auswirkungen der Digitalindustrie im Silicon Valley fasziniert. So setzen die Serverfarmen und Vertriebszentren dieser Unternehmen völlig neue Maßstäbe. Die Gebäude werden größer und größer, angeführt derzeit von Teslas Gigafabrik für Batterien in der Nähe der Stadt Reno in Nevada. Diese Zentren kommen fast ohne Menschen aus, sie arbeiten weitgehend automatisiert mit Robotern. Die Folge ist, dass der menschliche Maßstab bei ihrer Konzeption kaum noch eine Rolle spielt.

Oder die riesigen Gewächshäuser: Licht wird dort nicht mehr eingesetzt, um diese für Menschen auszuleuchten. Das Licht ist vielmehr auf ein kleines Spektrum der Strahlen beschränkt, das das Wachstum der Pflanzen gezielt fördert. Dies markiert einen Rückkehr zur reinen Funktionalität. Diese Entwicklung und die enormen Bauten auf dem Land, die zunehmend ohne die Anwesenheit von Menschen auskommen, führen dazu, dass die Architektur in Zukunft wesentlich radikalere Entwürfe wagen kann. Dazu gehören auch Farben. Weil der Mensch starke Kontraste oder auch sehr intensive Farben nur in geringer Dosierung aushalten kann, präferiert er zum Beispiel Beige. In den neuen Daten- und Vertriebszentren bekäme der Mensch hingegen einen Schock. Die digitale Welt, so könnte man sagen, hat sich ihre eigene Ästhetik geschaffen. All das wird nicht nur die Architektur, sondern das Zusammenleben insgesamt massiv verändern.

Rem Koolhaas, 73, ist einer der renommiertesten zeitgenössischen Architekten.

Zuerst erschienen im Magazin "The World in 2018" © 2017 The Economist Newspaper Limited, London. All rights reserved.

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