Archäologie:Winckelmanns Erben

Die Disziplin besinnt sich auf ihren Gründervater.

Von Johan Schloemann

Im Ruhrgebiet buddelt man für ein Neubaugebiet. Es treten Werkzeuge aus der Jungsteinzeit zu Tage: Hier gab es also schon vor 6000 Jahren Siedlungen, wenn auch noch ohne die irren Rendite-Hoffnungen von Immobilieninvestoren.

In Sachsen hat man Kurse in "Forensischer Archäologie" für Polizeibeamte eingeführt, Methoden der Feldforschung sollen Kriminalkommissaren bei der Spurensuche helfen. Im Nahen Osten untersucht man die "textile Revolution" - wie hat die Wolle, die man der Erfindung der Schafszucht verdankte, frühe Gesellschaften wirtschaftlich und optisch verändert? In Apulien zeigen Ausgrabungen, wie im Mittelalter Christen und Muslime nebeneinander wohnten. Und "Amazonen" wie die Comic- und Filmfigur "Wonder Woman" hat es wirklich einmal gegeben: Kriegerinnen am Schwarzen Meer, deren Geschlecht sich an ihren Überbleibseln per DNA-Test nachweisen lässt.

Das waren ein paar Nachrichten aus der Archäologie. Sie lebt also, diese Wissenschaft, aber sie hat sich sehr weit ausgedehnt über den Kernbereich hinaus, den man "Klassische Archäologie" nennt. In diesem Jahr besinnt sich das Fach auf die eigenen Ursprünge, betreibt also eine Archäologie der Archäologie.

Denn deren Gründervater Johann Joachim Winckelmann (1717-1768), ein Schustersohn aus Stendal, als Antikenchef in Rom einst in ganz Europa verehrt, wurde am 9. Dezember vor 300 Jahren geboren. Die Verehrung ist vielleicht nicht mehr ganz so heiß, aber immerhin bekommt Winckelmann eine eigene Briefmarke. Ein paar Tage vorher wird zudem der 200. Geburtstag des liberalen Historikers Theodor Mommsen begangen, der an Winckelmann mit dem Plan anknüpfte, jedes Fitzelchen alter Kulturen in preußisch gründlicher Großforschung wissenschaftlich zu erfassen.

Winckelmann, der besonders Männer liebte, begeisterte mit seinem Blick auf die Schönheit, ja Erotik von Marmorskulpturen. Sein Hohelied der antiken Freiheit und Harmonie ist unter der Formel "edle Einfalt und stille Größe" noch in mancher Schulstunde präsent. Aber er war auch ein Pionier der Kunstgeschichte, der Vorstellung, dass man am Vergleich von Stilen die Entwicklung von Kulturen zeigen kann. Winckelmann erkannte, bevor nach ihm das große Graben der Archäologen begann, dass die Machart menschlicher Artefakte vom Klima oder von politischen Verhältnissen abhängt.

Die Forschung heute folgt diesem Auftrag, wenn sie immer noch ein wenig das Wahre und Schöne sucht, aber auch, wenn sie mit naturwissenschaftlichen Methoden erkundet, wie Materialien und Techniken die Welt buchstäblich umgepflügt haben. Archäologen streiten über die Herkunft von Meisterwerken in Museen oder machen Vorschläge für den Wiederaufbau syrischer Städte. Sie machen viel Kleinarbeit und erfüllen manchmal auch den Traum vom Schatzgräber.

Und noch ein Erbe Winckelmanns gibt es: den erhabenen Gedanken, dass wir alle selbst einmal Geschichte sein werden. Der Antikenforscher Eric H. Cline sagt: "Unsere iPhones, Barbiepuppen, Wal-Mart-Supermärkte und die goldenen Bögen des ,M' von McDonald's werden die Studienobjekte künftiger Archäologen sein."

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