Politische Debatte:Der benutzte Jude

Egal ob Bundesbank-Vorstand Sarrazin oder EU-Handelskommissar De Gucht: Immer wieder gebrauchen die Menschen den Juden, um ihre eigenen Thesen zu den unterschiedlichsten Themen in der Welt zu verbreiten. Warum bloß?

Maram Stern

Maram Stern, 55, ist Vizepräsident und stellvertretender Generalsekretär des Jüdischen Weltkongresses. Er leitet das Europabüro der Organisation in Brüssel.

Da stehen nun also zwei Meinungen von hochrangigen politischen Persönlichkeiten im Raum. Auf der einen Seite hat Bundesbank-Vorstand Thilo Sarrazin behauptet, es gebe ein jüdisches Gen. Bereits früher hat er die Meinung geäußert, osteuropäische Juden seien intelligenter als durchschnittliche Deutsche. Auf der anderen Seite behauptet EU-Handelskommissar Karel De Gucht, man könne dem durchschnittlichen Juden nicht mit rationalen Argumenten kommen, da dieser glaube, immer recht zu haben.

Als Jude fragt man sich, warum diese Leute immer den Juden brauchen, um ihre eigenen Thesen zu den unterschiedlichsten Themen in der Welt zu verbreiten? Könnten sie nicht mit ihrer gesammelten Intelligenz und all ihren rationalen Argumenten einfach darauf verzichten, uns zum Beleg für ihre Thesen machen zu wollen? Die Erfahrung gibt die Antwort. Und die Antwort lautet: Nein.

Bei der Diskussion um Sarrazin ging im Medientrubel anfangs unter, dass der Mann gar nichts gegen Juden sagen wollte, sondern im Gegenteil von diesen eine seiner Ansicht nach hohe Meinung hat. Der Ansatz, unterschiedliche Menschen, Gruppen und Kulturen über Genetik definieren und daraus dann auch noch Folgerungen für die praktische Politik ableiten zu wollen, ist aber ein Unding. Und es ist auch Unfug zu sagen, dass Juden schlauer sind als andere.

Es gibt große und kleine Juden, dicke und dünne, schlaue und dumme. Selbst wer meint, uns Juden durch die Zuweisung besonderer Eigenschaften - und dies auch noch auf genetischer Grundlage - einen Gefallen zu tun, der irrt. Denn praktisch passiert genau das Gegenteil. Wenn auch positiv, wir Juden werden wieder herausgehoben aus der Allgemeinheit, in eine Sonderstellung versetzt und damit letztlich doch wieder stigmatisiert. Es muss sich noch in vielen Köpfen die Erkenntnis durchsetzen, dass wir Juden einfach nur Menschen sind, wie alle anderen auch.

De Gucht redet der antijüdischen Propaganda das Wort

Schlimmer als Sarrazin macht der EU-Handelskommissar Karel De Gucht deutlich, was in seinem Kopf vorgeht. Der "durchschnittliche Jude" glaube, immer im Recht zu sein. Deshalb sei er schwer mit rationalen Argumenten zu erreichen. Und geradezu verschwörerisch warnt De Gucht davor, die Macht und den Einfluss der jüdischen Lobby auf die Politik in den Vereinigten Staaten zu unterschätzen. Darin sieht er auch ein Haupthindernis für Frieden im Nahen Osten. Es fehlt nicht mehr viel zur elenden Stereotype von der "jüdischen Weltverschwörung", wie sie seit Jahrzehnten als Obsession in der Gedankenwelt verschrobener Menschen wohnt.

Vom kleinsten Vogelzuchtverein bis zum größten Industriekonzern organisieren sich Menschen auf dieser Welt und vertreten gemeinsam ihre Interessen. Allerdings existiert zu keinem Umweltschutzverband, keiner Gewerkschaft und keinem Grundbesitzerverein die Mär, die jeweilige Organisation habe die Politik fest im Griff. Aber bei den Juden soll es angeblich so sein.

Mindestens genauso schlimm wie De Guchts Fixierung auf die vermeintliche Macht der "jüdischen Lobby" ist aber seine gleichzeitig geäußerte Auffassung, diese würde den Frieden im Nahen Osten verhindern. Hierbei handelt es sich um eine infame Unterstellung, die allen Erklärungen und erlebbaren Tatsachen wiederspricht. De Gucht redet mit seinen Äußerungen in erschreckender Weise der antijüdischen Propaganda jener islamischer Radikaler das Wort, die keine Verständigung suchen.

Man weiß allerdings nicht, worüber man sich mehr ärgern muss: über De Guchts ursprüngliche Auslassungen oder über seine heuchlerischen und verlogenen Ausreden danach. Nach Ausbruch massiver Kritik an seinen Äußerungen fühlt sich der langjährig erfahrene Politiker plötzlich missverstanden. Seine Äußerungen seien in einer Weise interpretiert worden, wie er sie gar nicht gemeint habe. Wie anders hätte er sie denn meinen können, als es alle aufmerksamen Beobachter, auch in der arabischen Welt, verstanden haben? Auf keinen Fall habe er die jüdische Gemeinschaft stigmatisieren wollen, sagt De Gucht. Und doch hat er genau dies getan. Für Antisemitismus gebe es in dieser Welt keinen Platz, bemüht er sich weiterhin zu erklären. Und doch drücken seine Äußerungen genau das Gegenteil aus.

Pure Heuchelei

Da hilft es auch nichts, dass der Kommissar und die gesamte EU-Kommission sich bemühen, die Äußerungen als "persönliche Meinung" zu deklarieren. Wenn ein EU-Kommissar zu einem politischen Thema mit einem Radiosender spricht, dann ist das immer eine politische Erklärung. Und deshalb ist De Guchts vermeintliche Entschuldigung auch keine solche, sondern vielmehr eine schlichte Ausrede und pure Heuchelei.

Gelegentlich wird beklagt, dass es ein Übermaß an Political Correctness gebe und jedes Wort auf die Goldwaage gelegt werde. Wir Juden erleben allerdings auch heutzutage noch allzu oft, dass den Worten der einen die Taten der anderen folgen. Eine existierende Political Correctness hätte im Falle von Karel De Gucht dazu führen müssen, dass die verlogenen Ausreden von einer aufmerksamen Öffentlichkeit zurückgewiesen worden wären. Dieser Mann hat ausgesprochen, was er denkt, und entgegen seinen Beteuerungen gibt es keine andere Interpretationsmöglichkeit als diejenige, die beim Auditorium ankam. Wir haben die Botschaft verstanden. Wir haben gesehen, wie tief antijüdische Vorurteile selbst in führenden Kreisen verwurzelt sind. Und wir haben verstanden, dass weder die Europäische Kommission noch irgendeine nationale Regierung in Europa diesem Umstand eine weitergehende Bedeutung beigemessen hat. Mit dem Kredit und dem Vertrauen, den De Gucht für sich als Person vollständig verspielt hat, geht also auch ein Stück Vertrauen in andere Institutionen verloren.

Und damit schließt sich zumindest für alle Verschwörungstheoretiker am Ende wieder ein Kreis. Denn wir Juden haben wieder einmal gelernt, dass wir uns am besten auf uns selbst und unsere eigene Stärke verlassen. Dazu müssen wir unsere Interessen organisieren und ständig neu vergewissern, wer tatsächlich ein verlässlicher Partner ist. Dass wir Juden in der amerikanischen Politik häufig die besseren Partner haben, stimmt mich als Deutschen und Europäer nachdenklich. Dem durchschnittlichen Juden, der ich auch bin, gibt es Sicherheit.

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