Gedenktage:Das moralische Kapital

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70 Jahre nach Kriegsende zeigt sich, dass Deutschlands Anstrengung zur moralischen und historischen Aufarbeitung der Schuld eine kluge politische Investition war. Sie gilt es zu pflegen - besonders in der Woche der schweren Erinnerungen.

Von Gustav Seibt

Endkampf um Berlin, die Befreiung Dachaus, sogar ein Besuch des ehemaligen Stalingrad, ein Festakt im Bundestag mit der Rede eines bedeutenden Historikers, eine Kranzniederlegung in Moskau: Die lange Woche des Gedenkens an die letzten Tage des Zweiten Weltkriegs vor 70 Jahren reißt die deutsche Politik, vor allem die Bundeskanzlerin und den Außenminister, aus ihren Alltagsgeschäften, die anspruchsvoll genug sind.

Der Kalender bewirkt bei vielen Nachgeborenen ein weiteres Mal die Suggestion von unmittelbarem Erleben. Der Reinszenierungsversuch der russischen "Nachtwölfe", die auf ihren Motorrädern von Moskau bis zum Sowjetischen Ehrenmal in Berlin-Treptow gelangen wollen, übersteigert diese Erinnerungsform bis zum Bizarren - der Obsession mancher Berlin-Besucher für die Bunker des Weltkriegs nicht unähnlich. Wichtiger ist, was der Lüneburger Auschwitz-Prozess zeigt: Es wird der letzte runde Gedenktag zu diesen Anlässen sein, bei dem in nennenswerter Zahl Zeitzeugen anwesend sein können - schon das ist ein Grund für eine besondere Sorgfalt.

Diese Spannung zwischen authentischer Erfahrung und populärem Geschichtsjahrmarkt zwingt die politischen Amtsträger und Erben des Staates, um den der Weltkampf vor 70 Jahren geführt werden musste, zu einer nachdenklichen und nachdrücklichen Sprache. Das Gedenken an die Ereignisse von 1945 ist eine Kernaufgabe deutscher Politik, und diesmal noch etwas mehr als bei früheren Jahrestagen.

Das liegt natürlich an den neuen Verwerfungen in Europa. Seit der Euro-Krise verfestigt sich in vielen Ländern der Eindruck, dass die EU zu einer Gemeinschaft von Gewinnern und Verlierern geworden sei. Ein Vierteljahrhundert nach dem Fall der Mauer sieht das vormals besiegte Deutschland wie ein Gewinner aus, während vor allem die gebeutelten Länder am Mittelmeer ums ökonomische Überleben kämpfen. Der Zusammenhang von Schuldenkrise und ausgebliebenen Reparationen, den die Griechen herstellen, mag ökonomisch und rechtlich absurd sein, emotional hat er etwas Zwingendes.

Deutschlands Schuldbewusstsein macht seine Stärke erträglich

Noch beunruhigender ist die Rückkehr von Problemlagen aus der Zwischenkriegszeit in Osteuropa zwischen Russland, Polen und der Ukraine. Dass Russland die Geschichte des Zweiten Weltkriegs erst 1941 beginnen lässt, mit dem Überfall Nazi-Deutschlands auf die Sowjetunion, und nicht schon mit der Aufteilung Osteuropas 1939 im Hitler-Stalin-Pakt, ist eine fortdauernde Hypothek. Auch Putins Propaganda-Nationalismus appelliert ans Gefühl der Russen, seit dem Ende des Kalten Kriegs nicht mehr auf der Gewinnerseite zu stehen; umso wichtiger bleibt die Erinnerung an den großen vaterländischen Krieg, das einzige positive Erbe der stalinistischen Epoche und ihrer furchtbaren Leiden, das bis heute unumstritten ist.

Auf diese Gefühle und altneuen Verletzungen muss die deutsche Politik reagieren. Einmal mehr zeigt sich, dass die fortwährende Befassung mit der Vergangenheit eine nicht nur moralisch gebotene, sondern auch politisch kluge Anstrengung war. Ohne das moralische Kapital, das die Bundesrepublik gegen viele innere Widerstände seit den Fünfzigerjahren angehäuft hat, wäre ihre Stellung in der Welt heute erheblich komplizierter.

Dieses moralische Kapital wirkt auf eine paradoxe Weise, denn es stärkt Deutschland, je mehr die deutsche Politik sich moralisch zurücknimmt. Das Wissen aller in Europa, nicht zuletzt der Deutschen selbst, um die fortdauernde moralische Angreifbarkeit sei, so hat der Politologe Herfried Münkler jüngst argumentiert, ein Faktor, der die neue Stärke Deutschlands den anderen überhaupt erträglich mache. Dieser sehr dialektische Gedanke zeigt, wie komplex die Gedenk-Aufgabe geworden ist.

© SZ vom 04.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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