Anschlag in Ankara:Erdoğans Verantwortung

Anschlag in Ankara: Mitglieder der Emep, der türkischen "Partei der Arbeit", halten in Ankara Bilder jener Parteikollegen hoch, die bei Bombenexplosionen während einer Demonstration tags zuvor ums Leben gekommen sind. Fast 100 Menschen wurden bei dem Anschlag getötet.

Mitglieder der Emep, der türkischen "Partei der Arbeit", halten in Ankara Bilder jener Parteikollegen hoch, die bei Bombenexplosionen während einer Demonstration tags zuvor ums Leben gekommen sind. Fast 100 Menschen wurden bei dem Anschlag getötet.

(Foto: AFP)

Ein Massaker mit 100 Toten im Herzen der Hauptstadt - das hat es selbst in der leidgeprüften Türkei bislang nicht gegeben. Die Kurden beschuldigen den Staat und Präsident Erdoğan. Ist das absurd?

Kommentar von Christiane Schlötzer

Die Türkei ist ein leidgeprüftes Land - Anschläge, politische Morde, der wieder aufgeflammte Kurden-Krieg. Die jüngere Geschichte der Republik lässt sich anhand von Orten erzählen, die mit Tod und Trauer verknüpft sind: Suruç, Diyarbakır, Istanbul. Aber ein Massaker mit etwa 100 Toten im Zentrum Ankaras, im Herzen der Hauptstadt, das hat es noch nicht gegeben. Wer tut so etwas?

Premier Ahmet Davutoğlu hat, noch bevor die Ermittler tätig werden konnten, gleich drei Fährten zu möglichen Tätern gelegt: der IS, die Kurdenorganisation PKK oder eine erstaunlich langlebige linksradikale Schattengruppe, genannt DHKP-C. Letztere wählt gewöhnlich Ziele, die sie für symbolisch hält. 2013 war dies die US-Botschaft in Ankara; da gab es zwei Tote. Eine Großkundgebung von Gewerkschaftern, linken Anwälten und Kurdenpolitikern passt kaum in dieses Schema. Das gilt, mit Abstrichen, auch für die kurdische PKK, selbst wenn es in deren Reihen grobschlächtige Taktiker gibt. Dass Kurden aber gezielt so viele Kurden töten wollten, mutet abenteuerlich an. Nach allem, was man weiß, gingen die Sprengsätze vor dem Bahnhof in Ankara genau dort hoch, wo sich Anhänger der legalen Kurdenpartei HDP zur Kundgebung versammelten.

Für eine Täterschaft des Islamischen Staats (IS) dagegen spricht viel: Milizen der Kurden sind bislang die erfolgreichsten Kämpfer gegen den IS in Syrien und im Irak. Schon der Anschlag am 20. Juli im türkisch-kurdischen Suruç mit 34 Toten war offensichtlich das Werk eines türkischen IS-Sympathisanten. Die Türkei hat erst kürzlich ihre Flugbasis Incirlik für Angriffe der US-Streitkräfte auf IS-Ziele in Syrien geöffnet. Ein Racheakt ist denkbar. Das Ziel wäre auch klar: die weitere Destabilisierung der Türkei.

Die Kurden hegen den Verdacht, der Staat selbst habe gebombt

War es der IS, dann muss sich die Türkei womöglich auf noch Schlimmeres gefasst machen. Viel zu lange hat sie die Radikalen im Land gewähren lassen. Ankaras Syrien-Politik war eine Springprozession. Zuerst unterstützte man die Freie Syrische Armee, dann die Islamisten - in der Hoffnung auf einen Sturz Baschar al-Assads. Inzwischen ist Syrien ein Schlachtfeld für viele, für Iraner, Russen, Amerikaner. Und die Türkei ist Frontstaat, von Flüchtlingen überrannt, von Kämpfern infiltriert.

Das Massaker von Ankara weckt Erinnerungen an eine Serie von Selbstmordattentaten, die zwölf Jahre zurückliegt. Damals wurde in der Nachbarschaft der Türkei auch Krieg geführt: im Irak. Türkische Islamisten jagten im November 2003 in Istanbul erst zwei Synagogen, dann das britische Konsulat und eine Bank in die Luft. Es gab fast 60 Tote, darunter viele Juden. Ihr Begräbnis war ein Statement. Auf den Särgen lagen türkische Flaggen, die Botschaft war: Dieses Land lässt sich nicht spalten. Zwölf Jahre später ist die Türkei zutiefst zerrissen. Präsident Recep Tayyip Erdoğan polarisiert, wo er kann. Er hat das Land in einen unnötigen Wahlkampf getrieben, weil er es nicht hinnehmen wollte, dass ausgerechnet die Kurden mit ihrem Wahlerfolg vom Juni ihm Grenzen setzten.

In den Reihen der Kurden nährt dies einen bösen Verdacht: Der Staat hat selbst gebombt. Der "tiefe Staat", ein rechtsgewirktes Gewebe aus Geheimdiensten, Militärs und Mafia war einst immer verdächtig. Dieses Netz wurde eigentlich zerschlagen, es könnte jedoch ein neues gewachsen sein. Dennoch erscheint die Vorstellung, die Staatsspitze habe selbst größtmögliches Chaos säen wollen, abwegig. Nur: Welche Erklärung die Regierung am Ende auch liefert, viele werden sie nicht glauben. Das wird den Keil des Misstrauens noch tiefer in die Gesellschaft treiben.

Die geplanten Wahlen am 1. November müssen deshalb stattfinden. Alles andere wäre eine Einladung an alle, die das Land in den Abgrund treiben wollen.

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