Anschlag auf Boston-Marathon:Sind die Brüder Zarnajew "Terroristen"?

Die Anklageschrift ist verlesen, dem überlebenden Terroristen von Boston wird bald der Prozess gemacht. Dem Terroristen? Oder dem Kriminellen? Nach dem Anschlag auf den Marathon ist in den USA eine Debatte über den Begriff "Terrorismus" entbrannt - die weit über Wortklauberei hinausgeht.

Am Anfang war das Wort - noch nicht da, zumindest wurde es noch nicht öffentlich ausgesprochen. Erst in den Tagen nach dem Anschlag auf den Boston-Marathon bestimmte es zunehmend den Diskurs über die beiden Explosionen, die drei Menschen töteten und mehr als 200 verletzten: Terrorismus. Am Tag nach der Festnahme der Brüder Zarnajew spricht auch Präsident Barack Obama in seiner wöchentlichen Rede erstmals von einem "Act of Terror". "Die Amerikaner weigern sich, sich terrorisieren zu lassen", sagt er.

Nun stammen die Brüder Zarnajew ursprünglich aus dem Kaukasus. Und sie sind Muslime. Aber ob ihre tschetschenischen Wurzeln oder ihr Glaube etwas mit dem Anschlag vom Montag zu tun haben, ist völlig unklar. Wie die Tat von Boston vor diesem Hintergrund zu bewerten ist, darin sind sich auch die US-Experten uneins. Der frühere Vize-Chef der CIA, Philip Mudd, sagte dem konservativen Sender Fox News, Dschochar Zarnajew, sollte als Mörder, nicht als Terrorist angeklagt werden:

... that Boston bombing suspect Dzokhar Tsarnaev should be charged as a murderer because the crime looked more like the 1999 massacre at Columbine High School in Colorado than an attack planned by al Qaeda.

Seit dem Wochenende diskutieren amerikanische Polit-Kommentatoren hitzig über das Wort "Terrorismus" und die möglichen Konsequenzen seiner Verwendung. Mit einem Post in dem Blog Electronic Intifada gab der palästinensischstämmige US-Journalist Abu Abunimah den Ton vor. Er schreibt, man könne zwar argumentieren, diese Debatte sei überflüssig:

It may seem pointless to quibble with this description: after all what could be more "terroristic" than setting off bombs at a peaceful sporting event killing three persons, one a child, and injuring or horrifically maiming dozens more?

Aber, entgegnet Abunimah sich selbst, die Beschreibung der Tat entscheide darüber, wie Politik, Medien und Gesellschaft darauf reagierten - und sei daher alles andere als unwichtig:

But in fact how the act is described is very important in determining government, media and wider societal responses, including ramping up racism and bigotry against Muslims, Arabs or people of color.

So befeuert der Diskurs über Boston beispielsweise die Debatte über Terrorismus als versicherbares Risiko, wie das Magazin Politico skizziert. Vor allem aber verleiht sie der Einwanderungsdebatte zusätzliche Schärfe. Für Präsident Obama könnte diese Anschlussdiskussion zu einem der entscheidenden Punkte seiner zweiten Amtszeit werden, geht es doch um eines seiner zentralen Themen.

Der Blogger Abunimah erwähnt zwei Terrorismus-Definitionen, mit denen die US-Regierung arbeitet:

Terrorism as "premeditated, politically motivated violence perpetrated against noncombatant targets by subnational groups or clandestine agents, usually intended to influence an audience."

Terrorism as "the unlawful use of force or violence against persons or property to intimidate or coerce a government, the civilian population, or any segment thereof, in furtherance of political or social objectives."

Das mächtigste Wort im politischen Wörterbuch

Basierend auf diesen Begrifflichkeiten, schlussfolgert der Amerikaner, mache das "politische Motiv" den Unterschied zwischen einem Terror-Attentat und einem kriminellen Akt wie etwa dem Blutbad von Aurora aus. Der Anschlag von Boston sei damit nicht als Terror zu bewerten. Unterstützung erhielt Abunimah umgehend von dem umtriebigen Strafrechtler Alan Dershowitz. Dieser sagte der britischen BBC:

It's not even clear under the federal terrorism statute that this qualifies as an act of terrorism. In order to prove it's an act of terrorism they have to prove that they had certain kinds of intentions and motivations.

Dershowitz fügte hinzu:

And they're allowing their perception of bias to influence the facts of the case. Well yeah, an enemy combatant but who's the enemy here? These are two young men, we have no idea what their motivation was, particularly the young man who was captured alive. As far as we know he has never been in direct contact with anybody from any foreign country. They're just making it up.

Als nächster schaltete sich Glenn Greenwald in die Debatte ein, Jurist und Blogger für die US-Ausgabe des Guardian. Greenwald, der schon 2010 eine Analyse zur politischen Instrumentalisierung des Terrorismus-Begriffs verfasst hatte, schreibt, das Wort "Terrorismus" sei das mächtigste im politischen Lexikon:

The word "terrorism" is, at this point, one of the most potent in our political lexicon: it single-handedly ends debates, ratchets up fear levels, and justifies almost anything the government wants to do in its name.

Greenwald zieht die Schlussfolgerung, am Ende bedeute Terrorismus im US-Diskurs: Gewalttaten, die Muslime gegen Amerika verübten.

As usual, what terrorism really means in American discourse - its operational meaning - is: violence by Muslims against Americans and their allies.

Das ist natürlich auch als Provokation gemeint und die erste Antwort lässt nicht lange auf sich warten. Der politische Kommentator Andrew Sullivan schreibt unter der Überschrift "Yes, Of Course It Was Jihad" im Blog The Dish, der religiöse Hintergrund der Tat lasse sich doch kaum ignorieren:

But to dismiss the overwhelming evidence that this was also religiously motivated - a trail that now includes a rant against his own imam for honoring Martin Luther King Jr. because he was not a Muslim - is to be blind to an almost text-book case of Jihadist radicalization, most likely in the US.

Die Kommentatoren spielen sich die Debatte munter hin und her. Greenwald entgegnet, Sullivans Argument verstärke seinen ursprünglichen Punkt nur - nämlich, dass die Religionszugehörigkeit eines Täters keine Schlüsse über ein Motiv zulasse:

Andrew simply assumes that any bad act done by a Muslim - even a bad act committed mostly by non-Muslims - must be caused by Islam, even though he has no evidence to prove this

Dschochar Zarnajew wird derzeit von den Ermittlern befragt. CNN berichtete unter Berufung auf Sicherheitskreise, der 19-Jährige habe seinen Befragern zu verstehen gegeben, dass sein älterer Bruder die treibende Kraft hinter Planung und Ausführung des Anschlags gewesen sei und dass der 26-Jährige mit der Tat den Islam habe verteidigen wollen. Jegliche Beziehung zu Terrororganisationen stritt Zarnajew jedoch ab. Je mehr Antworten der mutmaßliche Täter geben kann, desto komplexer dürfte die Debatte werden, die Amerika über den Terrorismus führt.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: