Anschlag auf Berliner Weihnachtsmarkt:Die Fahnder müssen den Fall neu denken

  • Bereits knapp zwei Stunden nach dem Anschlag auf einen Weihnachtsmarkt nimmt die Berliner Polizei einen möglichen Tatverdächtigen fest.
  • Am Dienstag stellt sich heraus: Der Festgenommene ist wohl nicht der Täter.
  • Offenbar hat der heldenhafte Verfolger, der am Tatabend die Polizei rief, den Täter kurz aus den Augen verloren und dann den Falschen weiterverfolgt.

Von Hans Leyendecker, Georg Mascolo, Nicolas Richter und Jens Schneider

Er fuhr langsam, sehr langsam, als wollte er Anlauf nehmen. Dann lenkte er den Laster in Schlangenlinien in die Menge. Die Menschen fielen wie Bowlingkegel um, wie sich Augenzeugen erinnerten. Dann erschossen Polizisten den Massenmörder Mohamed Lahouaiej-Bouhlel. Das war Nizza, am 14. Juli dieses Jahres. 86 Menschen starben. Die Welt hat damals begriffen, dass islamistische Terroristen auch Lastwagen als Waffe verwenden. Doch den Mörder konnte niemand mehr befragen. So war es auch anderswo. Terroristen wurden vom Spezialeinsatzkommando erschossen oder sprengten sich in die Luft, wenn sie mit Pick-ups oder Bulldozern mordeten. Der Täter war schnell benannt, aber es war sehr mühsam, an die Hintermänner zu gelangen.

So war es, nach all dem Schrecklichen am Montagabend in Berlin, schon fast eine gute Nachricht, dass einer der angeblichen Täter gefasst war. Bundesinnenminister Thomas de Maizière, der bei solchen Gelegenheiten sehr vorsichtig ist, sprach im Fernsehen über die Schrecknisse des mutmaßlichen Anschlags, aber er ließ doch erkennen, dass es gut sei, dass in diesem Fall ein mutmaßlicher Tatbeteiligter festgenommen worden sei.

Bereits knapp zwei Stunden nach dem Anschlag auf dem Breitscheidplatz sendet die Berliner Polizei ein Zeichen der Entwarnung. Es gebe derzeit keine Hinweise "auf weitere gefährdende Situationen in der City", twittert sie. "Wir gehen nicht davon aus", antwortet Berlins Innensenator Andreas Geisel (SPD) wenig später auf die Frage, ob noch weitere Gefahr bestehe. Die Beamten, so die Logik, hatten ja einen jungen Mann als möglichen Tatverdächtigen festgenommen. So furchtbar das Verbrechen auch war, so groß ist nun auch die Erleichterung.

Die Kleidung des festgesetzten Mannes ist weitgehend sauber

Noch in der Nacht werden Einzelheiten über die Herkunft des Festgenommenen bekannt, und anscheinend ergibt sich daraus ein stimmiges Bild. Es heißt, er sei ein 23-jähriger Flüchtling aus Pakistan. Er soll in der Silvesternacht 2015 nach Deutschland eingereist sein, angeblich war er mit 15 weiteren Personen unterwegs und stellte einen Asylantrag. In manchen Meldungen heißt es, er sei über die Balkanroute gekommen, wie so viele andere Flüchtlinge. Er lebte zuletzt in Berlins größter Flüchtlingsunterkunft auf dem früheren Flughafen in Tempelhof.

Das klingt stimmig in einem Jahr, in dem es in ganz Europa so viele islamistische Anschläge gegeben hat. Vielleicht klingt es so stimmig, dass die Behörden ihre übliche Sorgfalt und Zurückhaltung etwas voreilig aufgeben.

Denn es soll von Anfang an Zweifel daran gegeben haben, dass der Festgenommene tatsächlich der Mann ist, der den Todeslaster zuletzt gesteuert hat. Als sich die deutschen Innenminister in einer Telefon-Konferenz am Morgen austauschen, werden diese Zweifel offen angesprochen. Manche der Zeugenaussagen und vor allem die ersten Spuren vom Tatort sind nicht eindeutig. Die Tatwaffe fehlt. Die Forensiker mahnen, sie bräuchten noch Zeit. Vieles passt nicht zusammen. So sieht es in der Fahrerkabine zum Beispiel furchtbar aus, dort liegt die Leiche des ursprünglichen Fahrers, eines Polen, der durch eine Schusswaffe getötet wurde. Überall soll Blut sein.

Die Kleidung des Festgenommenen aus Pakistan aber ist weitgehend sauber. Keine Blutspritzer. Keine Spuren eines Kampfes. Auch findet die Polizei an seinen Händen offenbar keine Schmauchspuren, keine Spuren also, dass er eine Schusswaffe benutzt hat. Schließlich bestreitet er, dass er mit der Tat etwas zu tun hatte. Wenn er wirklich ein radikaler Islamist wäre, dann würde er sich zu der Tat bekennen, sogar stolz auf sie sein.

Die Öffentlichkeit bekommt von diesen Zweifeln zunächst nichts mit. Bundeskanzlerin Angela Merkel klingt so, als sei sich die Bundesregierung ziemlich sicher, was am Montagabend geschehen ist. Sie spricht von einem Terroranschlag.

Andere aber klingen bald so, als müsse man mit der Suche noch einmal von vorn beginnen. Berlins Polizeipräsident Klaus Kandt sagt auf einer Pressekonferenz im Roten Rathaus, dass "in der Tat noch unsicher ist, ob der Mann der Fahrer war". Zu gleicher Zeit twittert die Berliner Polizei eine Warnung an die Bürger der Stadt: "Der festgenommene Tatverdächtige streitet derzeit die Tat am #Breitscheidplatz ab. Wir sind daher besonders wachsam. Seien Sie es bitte auch."

Vieles spricht dafür, dass ein Terroranschlag verübt wurde

Im Hintergrund wurden Berliner Ermittler da schon viel deutlicher. Der Festgenommene sei sicher nicht der Täter, bestätigten sie. Offenbar hat der heldenhafte Verfolger, der am Tatabend die Polizei rief, den Täter kurz aus den Augen verloren und dann den Falschen weiterverfolgt. "Ja, Scheiße", bestätigte ein Ermittler, der ungenannt bleiben möchte: Der Festgenommene könnte tatsächlich nicht der Richtige sein.

Nachmittags gegen 14.30 Uhr dann tritt Deutschlands ranghöchster Ermittler auf: Generalbundesanwalt Peter Frank. Die Medien hatten sich von seinem Auftritt am meisten versprochen, denn seine Behörde leitet die Ermittler, wie immer bei den ganz großen Terrorismusfällen. Frank sagt, er berichte jetzt über "unsere derzeitige Erkenntnislage". Doch wie sich herausstellt, wissen die Strafverfolger nicht viel mehr als am Morgen, eher noch weniger. "Wir müssen uns mit dem Gedanken vertraut machen", sagt Frank, dass der festgenommene Mann aus Pakistan nicht der Täter sei, der den Todeslaster gesteuert habe.

Das ist relativ wenig Sicherheit, nach-dem die Kanzlerin bereits Stunden zuvor versichert hat, man habe es eindeutig mit einem Terrorakt zu tun. Frank immerhin ist sich in dieser Frage relativ sicher: Auf dem Weihnachtsmarkt hat ein islamistischer Terroranschlag stattgefunden. Erstens, sagt Frank, spreche dafür die "Art der Tatbegehung", also der Umstand, dass der Täter einen Lastwagen als Waffe benutzt habe.

Der Fahrer des Lkw hatte in Turin Stahlteile geladen und nach Berlin bringen sollen

Dies entspreche dem Vorgehen in Nizza: Damals, am 14. Juli, fuhr der Attentäter auf der Strandpromenade in eine Menschenmenge, tötete 86 Personen und verletzte mehr als 400. Die Terrorgruppe Islamischer Staat bekannte sich zu dem Anschlag und hat etliche Anleitungen dafür im Internet veröffentlicht, wie man mit Fahrzeugen möglichst viele Menschen töten kann. Das zweite Indiz für islamistischen Terror, sagt Frank, ist das symbolträchtige Ziel, feiernde Menschen, noch dazu im Zusammenhang mit Weihnachten, dem größten christlichen Fest. Die Ähnlichkeit zu Nizza und der Weihnachtsmarkt als Ziel, das sind zwei starke Indizien dafür, dass hier ein islamistischer Anschlag stattgefunden hat. Aber es sind eben nur Indizien. Sicherheitsexperten interpretieren die Worte Franks so: Die Ermittler haben nicht viel in der Hand. Sie haben keinen Täter und womöglich auch keine heiße Spur.

Am Abend erklärt die Bundesanwaltschaft, der Festgenommene werde wieder freigelassen. "Die durchgeführten kriminaltechnischen Untersuchungen konnten eine Anwesenheit des Beschuldigten während des Tatgeschehens im Führerhaus des Lkw bislang nicht belegen", schreibt der Generalbundesanwalt.

Nun müssen die Ermittler den Fall wieder ganz neu denken. Müssen Zeugen befragen, Videos auswerten, Blutspuren im Lastwagen untersuchen. Die Ermittler müssen die Fahrt des polnischen Lastwagens auf dem Weg aus Italien nach Berlin rekonstruieren. Der schwere Sattelschlepper gehört einer polnischen Firma. Der Fahrer des Lkw hatte in Turin Stahlteile geladen und nach Berlin liefern sollen. Ariel Zurawski, der Besitzer der Spedition, sagt dem Sender TVN24, er sei überzeugt, dass sein Fahrer bei dem Anschlag nicht am Steuer gesessen habe. "Das ist mein Vetter. Ich lege die Hand für ihn ins Feuer." Sein Vetter sei ein bewährter Fahrer mit 15 Jahren Berufspraxis gewesen. Er selbst habe, so sagt Zurawski, am Montagmittag das letzte Mal mit seinem Vetter telefoniert.

Am Dienstagabend nimmt dann der IS den Anschlag für sich in Anspruch. Der Täter, erklärt die Terrormiliz, sei ein "Soldat des Islamischen Staates". Ob diese Nachricht, verbreitet vom IS-Sprachrohr Amak, echt ist, lässt sich nicht überprüfen. Die Form der Erklärung entspricht jedoch den früheren Selbstbezichtigungen der Extremisten. Sehr viel spricht also dafür, dass in Berlin tatsächlich ein Terroranschlag verübt wurde. Aber solange es keinen konkreten Tatverdächtigen gibt, werden die Spekulationen bleiben. War es vielleicht doch etwas anderes: ein Verbrechen, das der organisierten Kriminalität zuzuordnen ist? Das ist zwar höchst unwahrscheinlich, doch die Ungewissheit wird vorerst bleiben. Ein Terrorist, den man am Steuer erschießt, oder ein Selbstmordattentäter, der sich selbst in die Luft sprengt - da weiß man als Ermittler wenigstens, woran man ist.

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