Anschläge in Paris:Im Herzen getroffen

Paris im Schockzustand: Am Tag nach den Anschlägen wird eine unscheinbare Kreuzung im 11. Arondissement zum zentralen Ort der Trauerbewältigung.

Von Thomas Hummel, Paris

Ein Terroranschlag? Hier?

Fünf Straßen, so schmal, dass gerade mal ein Wagen hindurchpasst, eine kleine Kreuzung, die Häuser ringsherum fünfstöckig, von einigen fällt der Putz ab. Die verwaschenen Farben nähern sich einem dreckigen Grau. Typisches Paris. Typischer geht's kaum. Die Kreuzung im 11. Arrondissement beherbergt zwei kleine Bars, wie es in Frankreich Tausende gibt: Le Carillon und Le Petit Cambodge. Abends sind sie gut besucht, Studenten, Alternative, im Le Carillon schaut manchmal eine Nachbarskatze vorbei und legt sich neben den Trinkenden auf die Fensterbank. "Warum hier?" schimpft Maurice, mit 74 Jahren ein Veteran des Viertels, "man kann nirgendwo mehr sicher sein."

War es das, was die Terroristen, die Mörder, beabsichtigten? Das Gefühl der Unsicherheit selbst in die kleinsten Gassen zu tragen?

Fassungslos über den Terror

Am Freitag gegen 21.20 Uhr kamen sie, feuerten mit schweren Waffen auf die Menschen, die vor den beiden Cafés saßen. Wahllos. Laut Staatsanwaltschaft starben hier 14 Menschen, mehrere wurden schwer verletzt.

Am Tag nach dem Anschlag stehen mittags Dutzende auf der Kreuzung. Sie legen Blumen nieder, zünden Kerzen an. Viele haben rote Augen, blicken hilflos umher, lehnen sich aneinander. Ein Student mit bleichem Gesicht erzählt, dass er in der Nähe wohnt und die Schüsse gehört hat. Er erzählt vom Lärm, vom Chaos, vom Aufruhr. Dann von Blut und Toten. Seine Hände zittern so sehr wie seine Stimme.

Significant Death Toll Feared In Paris Terror Attacks

Trauernde legen am Tag nach den Anschlägen Blumen vor dem Le Carillon nieder.

(Foto: Getty Images)

Eine junge Frau steht mitten auf der Straße zwischen den beiden Cafés, hat die Augen geschlossen, Zeigefinger und Daumen verbunden, ihr Mund bewegt sich. Sie steht da, minutenlang, mit ihren drei Taschen, ihrem Schal, ihrem schwarzen Haar. Sie wirkt wie eine Erscheinung, bald halten die Menschen Abstand zu ihr als gäbe es ein Energiefeld um sie herum. Bis ein paar Fotografen sich kaum einen Meter vor ihr aufbauen und sie ablichten. Als die junge Frau nach bestimmt 20 Minuten die Augen öffnet, erschrickt sie und geht schnell weg.

Zu den anderen Schauplätzen der Terrornacht ist es nicht weit. Zehn Minuten Fußweg liegt das Konzerthaus Bataclan entfernt. Draußen am Eingang hängt noch das Schild, das die amerikanischen Popgruppe Eagles of Death Metal ankündigt. Jene Band, bei deren Konzert am Freitagabend fast hundert Zuschauer erschossen wurden. Das bunt angestrichene Haus ist jetzt weiträumig abgesperrt, Polizisten patrouillieren, an den Absperrbändern scharen sich Kameraleute und Übertragungswagen.

Sie stehen auch dort, wo die Leute eigentlich auf dem Marché Popincourt einkaufen. Am Boulevard Richard Lenoir, wo der Kanal Saint Martin unterirdisch verläuft, öffnen normalerweise morgens die Marktstände. Es gibt, was die Einwohner zum täglichen Leben brauchen, es ist das ursprüngliche Paris fern der großen Touristenströme. Jetzt ist nichts mehr davon übrig als die Metallskelette der Stände. Der Markt hat geschlossen, bis auf weiteres.

Menschen spenden Blut für die Schwerverletzten

Direkt gegenüber der Cafés Le Carillon und Le Petit Cambodge, wo das Sägemehl die Spuren der Nacht überdeckt, liegt bizarrerweise die Blutspendestation des Krankenhauses St Louis. An der Mauer rund um das Gebäude sind Einschusslöcher zu sehen, jemand hat sie mit weißer Kreide eingekreist. Wo normalerweise an einem Samstag nicht mehr als 15 Blutspender kommen, stehen an diesem Vormittag Menschen in langen Schlangen. Eine Ärztin sagt: "Für heute haben wir genug. Aber wir brauchen genauso viele in den kommenden Tagen." 180 Menschen sollen bei den Attentaten in der ganzen Stadt verletzt worden sein, 80 davon schwer. Hinzu kommen all jene, die ohnehin schon auf Blutspender gewartet haben.

So wird diese Kreuzung im stinknormalen 11. Arrondissement zum Brennglas der Trauerbewältigung. Während die einen Blutspenden, Beten, Weinen oder einfach nur da sind, müssen ein paar auch reden. Zwei Männer zum Beispiel, der eine Moslem, der andere Jude. Sie sagen: "Das ist ein Angriff auf die Jugend!" Hier schaue keiner auf die Religion, auf die Nationalität, auf das Aussehen, auf die Klamotten. Hier seien alle hergekommen, um auszugehen, sich zu amüsieren, ein Bier zu trinken. Was man halt so macht an einem Freitagabend. Da sei es noch ein Glück gewesen, dass zeitgleich das Länderspiel Frankreich gegen Deutschland stattgefunden habe, sonst wären die Straßen und Bars dreimal so voll gewesen. Am Ende klatschen sie ab, umarmen sich. Ein Jude und ein Moslem, gerade jetzt, zum Trotz.

Andere sind nicht so harmonisch gestimmt. Diskutieren kurz darauf mit dem Juden, dass es nicht angehen könne, wie Israel mit den Palästinensern umgehe. Maurice, der Veteran, schimpft, dass es keinen friedlichen Islam gebe. Er möchte aber nicht als Rassist missverstanden werden, schließlich sei seine Frau aus Marokko. Und an allem sei sowieso die Politik schuld.

Um 13.20 Uhr kommen vom Kanal her drei grüne Kastenwagen und zwei kleinere Autos mit Ladeflächen der städtischen Straßenreinigung. Ein ernst dreinschauender Mann mit Brille und weißem Ganzkörperanzug scheucht die Menschen zur Seite. Fünf, sechs Kollegen mit Wasserstrahlern, Besen und Schaufeln in der Hand nehmen den engen Gehweg vor dem Café Carillon ein und beginnen, sauber zu machen. Die Menschen treten zwei Schritte zurück und beobachten ungläubig den lärmenden, tosenden Tross, der hier offenbar seine Pflicht tut. Das Wasser vermischt sich mit dem Sägemehl, dem darunter liegenden Blut und dem Staub zu einem dunkelroten Rinnsal, der die Rue Alibert hinunterläuft und im ersten Gulli verschwindet.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: