Angst im Gazastreifen:"Die Einschläge kommen ohne Vorwarnung"

Die Straßen sind fast menschenleer, Drohnen surren in der Luft und alle paar Minuten schlägt eine Rakete ein: SZ-Korrespondent Peter Münch war gerade zwei Tage im Gazastreifen. Im Gespräch berichtet er von der Bedrohung, mit der die Menschen dort jetzt leben, und der zwiespältigen Rolle des Journalisten in einem Kriegsgebiet.

Peter Münch ist Israel-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung. Während der vergangenen Tage, in denen der Konflikt zwischen der Netanjahu-Regierung und der Hamas eskaliert ist, hat er sowohl im Süden Israels als auch im Gazastreifen recherchiert und erlebt, wie vor allem die Zivilbevölkerung unter dem Raketenbeschuss leidet.

Süddeutsche.de: Sie waren gerade zwei Tage im Gazastreifen. Wie ist die Situation dort?

Peter Münch: Die Menschen leben in großer Furcht. Die israelische Armee hat in den vergangenen sechs Tagen etwa 1300 bis 1500 Angriffe geflogen. Alle paar Minuten schlägt also irgendwo im Gazastreifen eine Rakete ein. Die israelische Armee sucht sich ihre Ziele sehr präzise aus, es handelt sich nicht um zivile Ziele. Trotzdem verbreiten die Einschläge Angst und Schrecken. Das hängt auch damit zusammen, dass sie ohne Vorwarnung kommen - es gibt keine Sirenen. Und keine Bunker für die Zivilbevölkerung. Auch nachts herrscht oft fast Dauerbeschuss, es sind immer wieder Detonationen zu hören.

Hinzu kommt, dass ständig ein Surren in der Luft liegt. Man sieht nichts, doch hört 24 Stunden lang dieses Surren, das durch israelische Drohnen verursacht wird. Israel überwacht damit das gesamte Gebiet. Wenn die Hamas oder der Islamische Dschihad aus irgendeiner Stellung eine Rakete abfeuern, schießen die Israelis sofort gezielt zurück.

Wenn die israelischen Angriffe so gezielt sind, warum sterben dann trotzdem so viele palästinensische Zivilisten oder werden verwundet?

Es gibt bei so vielen Angriffen eben immer wieder Geschosse, die danebengehen. Nicht immer lassen sich militärische und zivile Ziele genau trennen.

Wie verändert sich das Leben durch die Bombardierung?

Normales Leben ist unter dem Beschuss nicht möglich. Schulen sind geschlossen, die meisten Läden auch, die Straßen sind weitgehend menschenleer. Man sieht auch keine Polizisten mehr in der Öffentlichkeit, denn jeder, der sich in Uniform zeigt, ist ein potenzielles Ziel. Es gibt zwar noch Lebensmittel - der kriegerische Konflikt dauert ja noch nicht so lange an -, doch sie werden bereits teurer. Auch die Versorgung von Verletzten wird immer schwieriger. Bei einem Besuch im Schifa-Krankenhaus wurde mir gesagt, dass dort die Medikamente ausgehen. Fernsehen gibt es noch, Al Aksa sendet nach der Zerstörung seines Gebäudes durch israelische Bomben jetzt von einem Transporter aus. Auch Mobilfunk funktioniert noch.

Die Hamas reagiert auf die israelischen Bomben mit dem Ruf nach Vergeltung. Gilt das auch für die Bevölkerung?

Die Menschen im Gazastreifen wünschen sich natürlich, dass die israelischen Bombardierungen aufhören. Doch wie meist in Kriegen scharen sich auch hier die Menschen um ihre Führer. Sie befürchten, dass ihre Situation ohne eine starke Führung noch schlechter wäre. Hamas wird gestärkt aus dem Konflikt hervorgehen.

"Es gibt kein Gleichgewicht des Schreckens"

Sie waren auch im Süden von Israel, der vom Gazastreifen aus beschossen wird. Ist die Situation dort mit Gaza vergleichbar?

Auf beiden Seiten der Front lebt die Zivilbevölkerung zurzeit in einer Kriegszone. Auch auf israelischer Seite reagieren die Menschen mit Angst. Die Hamas hat in den vergangenen sechs Tagen mehr als 1000 Raketen auf Israel gefeuert. Trotzdem gibt es kein Gleichgewicht des Schreckens. Die Menschen in Israel werden durch Sirenen vor Angriffen gewarnt. Sie können sich in Bunkern in Schutz bringen - im Gazastreifen gibt es die allenfalls für hohe Hamas-Funktionäre. Zudem ist die israelische Armee den militanten Palästinensern haushoch überlegen: Von 1300 Angriffen sind 1300 Treffer. Die Raketen aus dem Gazastreifen landen hingegen häufig irgendwo in der Wüste - oder sie werden vom israelischen Abwehrsystem Iron Dome abgefangen. Raketen, die ihr Ziel treffen, sind natürlich jedes Mal schlimm - egal auf welcher Seite. Doch auf palästinensischer Seite starben schon mehr als 100 Menschen, in Israel bislang drei.

Können Sie sich unter den Kriegsbedingungen frei zwischen Israel und dem Gazastreifen bewegen?

Im Gegensatz zum Krieg 2008/2009 hat Israel den Grenzübergang zum Gazastreifen diesmal offen gelassen. Journalisten und Mitarbeiter von humanitären Organisationen können ihn mehrere Stunden am Tag passieren. Ich wurde zunächst von einem Posten der israelischen Armee kontrolliert und von israelischen Soldaten zur Grenze eskortiert. Dann bin ich zu Fuß über die Grenze gegangen und zwei Kilometer durch eine Art Niemandsland gelaufen. Bei einem Checkpoint der Hamas wurde ich noch registriert. Dort haben mich ein Mitarbeiter und ein Fahrer abgeholt. Im Gazastreifen selbst konnte ich völlig frei arbeiten.

Wie gefährlich war die Situation im Gazastreifen für Sie selbst?

Gefahr ist immer relativ. Ich gehe davon aus, dass die Israelis sehr genau zielen und ich weiß, dass ich nicht zu den Zielen gehöre. Sicher ist es manchmal ein mulmiges Gefühl, aber ich habe nicht unter Lebensgefahr gearbeitet.

Wie schwierig ist es, unter den Kriegsbedingungen Informationen zu bewerten?

Wie immer in Kriegsgebieten ist alles, was von offizieller Seite kommt, mit größter Vorsicht zu bewerten - und zwar egal, ob von den Israelis oder der Hamas. Doch wenn ich im Gebiet herumfahre, sehe ich ja auch selber, was geschieht, und kann mit Menschen reden.

Die Menschen in Gaza erfahren gerade viel Leid, haben Angst, werden verletzt oder erleben den Tod von Verwandten und Freunden. Wie reagieren sie auf Sie als Beobachter?

Es gehört zu beklemmenden Seiten des Jobs, dass ich als Journalist Menschen in ihrem größten Leid nicht unterstütze, sondern sie beobachte und befrage. In Gaza bin ich kurz nach einem Angriff an die Stelle eines Raketeneinschlags gekommen. Statt einem zweigeschossigen Haus klaffte hier ein großer Krater, der mit Trümmern, Scherben und Leichenteilen gefüllt war. Der normale menschliche Reflex wäre, nach Opfern und Überlebenden zu graben. Der journalistische Reflex ist, seinen Notizblock zu zücken. In diesem Fall gab es genug Menschen, die geholfen haben, deshalb konnte ich die Szenerie beschreiben. Wenn ich das Gefühl hätte, meine Hilfe ist dringend nötig, würde ich das nicht tun. Aber es ist ein seltsamer Zwiespalt, in dem man hier steckt.

Sie sind jetzt wieder in Tel Aviv. Die Stadt lebte ja bisher immer im Gefühl, dass Raketen aus dem Gazastreifen sie nicht erreichen können. Das hat sich geändert. Sind die Menschen jetzt in Panik?

An der Oberfläche hat sich erst einmal nichts verändert. Das normale Leben geht hier weiter. Doch es ist eine Verunsicherung spürbar. Die Blase der vermeintlichen Sicherheit, in der die Einwohner Tel Avivs lebten, ist geplatzt.

(Interview: Barbara Galaktionow)

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