Amok-Experte:"So etwas kann auch in Deutschland passieren"

Der Berliner Amok-Forscher Herbert Scheithauer über mögliche Erklärungen für eine unerklärliche Gewalttat.

Thorsten Denkler

Herbert Scheithauer ist Professor für Angewandte Entwicklungspsychologie an der Freien Universität Berlin und leitet dort das Leaking-Projekt. Darin wird untersucht, woran potentielle Amokläufer schon weit vor der Tat erkannt werden können.

Prof. Herbert Scheithauer

Herbert Scheithauer

(Foto: Foto: privat)

sueddeutsche.de: Herr Scheithauer, der Amoklauf in den USA hat alle schockiert. Jeder fragt sich: Wie kann jemand so etwas tun? Gibt es eine Erklärung?

Herbert Scheithauer: Die eine Erklärung gibt es nicht. Aber wir wissen aus unserer Forschung, dass die Täter oft ähnliche Verhaltensmuster aufweisen. Es sind oft Personen, die sich als Opfer empfinden, sich als außenstehend sehen und die ausgeprägte Rachephantasien haben. Sie verfügen zudem über nur geringe Fähigkeiten, Probleme zu lösen. Sie sind meist isoliert und werden von Gleichaltrigen zurückgewiesen. Hinzu kommen oft andere psychische Auffälligkeiten wie Verhaltensprobleme, Hyperaktivität und ähnliches. Das bedeutet aber nicht, dass jeder, der diese Merkmale aufweist, gleich zum Amokläufer wird.

sueddeutsche.de: Wird so eine Tat geplant?

Scheithauer: Häufig ist so ein Amoklauf an Schulen wohldurchdacht. Viele Täter haben sich über einen längeren Zeitraum auf die Tat vorbereitet und darauf hingearbeitet.

sueddeutsche.de: Mit den wenigen Informationen, die über den Tathergang im amerikanischen Blacksburg vorliegen: Erscheint Ihnen die Tat als geplant?

Scheithauer: Mir macht es den Anschein, dass dort jemand sehr wahllos um sich geschossen hat. Einiges soll ja auf eine Beziehungstat hindeuten.

sueddeutsche.de: Wie kann ein Beziehungsproblem dazu führen, dass jemand Dutzende Menschen erschießt?

Scheithauer: Die Person muss sehr verzweifelt gewesen sein, dass sie versucht hat, die Situation mit Waffengewalt zu lösen. In der Regel haben diese Menschen das Gefühl, keine andere Möglichkeit zu haben. Haben sie den ersten Menschen getötet, kann es durchaus zu einer Kurzschlussreaktion kommen, weil sich der Täter bewusst wird, es gibt jetzt keinen Weg mehr zurück.

sueddeutsche.de: In den USA kommen solche Amokläufe weitaus häufiger vor als in Deutschland. Liegt das nur an den schärferen Waffengesetzen bei uns?

Scheithauer: Auch in Deutschland haben wir eine Menge legaler Waffenbesitzer. Es sind genug Schusswaffen im Umlauf, die potentiellen Tätern als Tatwaffe dienen könnten. Wir dürfen uns nicht zurücklehnen und sagen, bei uns kommt keiner an Waffen, also sind wir nicht so bedroht. So etwas kann immer auch in Deutschland passieren. Wir dürfen nur deswegen nicht in Panik verfallen.

sueddeutsche.de: Dennoch, warum ist das Problem in den USA augenscheinlich größer?

Scheithauer: Es liegt zum einen schlicht an der Tatsche, dass es dort mehr Schüler und Schulen gibt. Es könnte auch an der sehr leistungsbezogenen Schulkultur liegen, die eher Außenseiter produziert, als bei uns. Wir verkennen aber, dass die sogenannten School-Shootings auch in Deutschland längst angekommen sind. Erfurt sticht da nur heraus, weil hier viele Menschen getötet worden sind. Aber es gibt verschiedene gut dokumentierte Fälle, wo es zu massiven Formen von Gewalt kam, wo Menschen erschossen wurden oder das gerade noch abzuwenden war. Wir sind kein blinder Fleck auf der Landkarte.

"So etwas kann auch in Deutschland passieren"

sueddeutsche.de: Sie forschen daran, potentielle Täter früh zu identifizieren. Wie wollen Sie das erreichen?

Scheithauer: Uns interessieren vor allem die Vorankündigungen, wie es sie auch in Emsdetten und in Erfurt gegeben hat. Fast alle School-Shooter haben ihre Taten in irgendeiner Form angekündigt. Wir versuchen herauszufinden, ob es Merkmale gibt, wie ernstzunehmende Androhungen von harmlosen Späßen unterschieden werden können. Rückblickend muss man sagen, wären die Ankündigungen ernst genommen worden, hätte die eine oder andere Tat verhindert werden können.

sueddeutsche.de: Sollen wir jetzt also alle wachsam sein, weil der Nachbarjunge vielleicht morgen schon meine Tochter erschießt?

Scheithauer: Natürlich nicht. Es wäre völlig überzogen, das Schulumfeld jetzt systematisch nach potentiellen Amokläufern zu scannen. Es reicht in der Regel der normale Menschenverstand, um Jugendliche mit Problemen zu erkennen und ihnen Unterstützung zu geben.

sueddeutsche.de: Ist es nicht im Grunde schon zu spät, wenn erst eine Amok-Drohung in die Welt gesetzt werden muss, damit sich jemand um den Verfasser kümmert?

Scheithauer: Ich gebe Ihnen da völlig Recht. Nehmen Sie den Fall Emsdetten: Da war der Täter schon sehr früh bei Bekannten, Nachbarn und Freunden als Eigenbrötler, als seltsamer Vogel aufgefallen. Ich kann nur appellieren, solche Leute nicht als Spinner abzutun, sondern sie aufzufangen, sich um sie zu kümmern. Wir müssen dafür sorgen, dass sich im Schulumfeld niemand ausgegrenzt und unerwünscht fühlt. Schule muss ein Ort sein, an dem sich Kinder wohl fühlen. Wenn wir es schaffen, dass Einzelne gar nicht erst in diese Opferrolle kommen, dann ist das die beste Prävention, die wir betreiben können.

sueddeutsche.de: Was spricht dagegen, die Schulen hermetisch abzuriegeln - und die Kinder erst nach umfangreichen Sicherheitschecks ins Gebäude zu lassen?

Scheithauer: Es wird auch trotz extremer Sicherheitsvorkehrungen immer wieder zu solchen Vorfällen kommen. Schlimmstenfalls erzeugt eine Hochsicherheitsschule bei problematischen Kindern noch ganz andere Phantasien, von denen wir uns nicht wünschen sollten, dass sie sie eines Tages ausleben.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: