Amnesty-Deutschland-Chefin Çalışkan:"Erdoğan kann die Uhr nicht mehr zurückdrehen"

Selmin Caliskan

Selmin Celiskan, Generalsekretärin von Amnesty International Deutschland

(Foto: dpa)

Um die Proteste und Polizeigewalt in Istanbul aus der Nähe zu beobachten, ist Selmin Çalışkan, die Chefin von Amnesty-International Deutschland, in die Türkei gereist. Im Interview mit SZ.de erklärt sie, wie das drastische Vorgehen der Polizei die Bürger lagerübergreifend politisiert - und wie die Gegner der Regierung Erdoğan die Türkei verändern wollen.

Von Oliver Das Gupta

Selmin Çalışkan, Jahrgang 1967, kam als Kind türkischer Gastarbeiter im nordrhein-westfälischen Düren zur Welt. Seit März fungiert sie als Generalsekretärin der deutschen Sektion von Amnesty International. In den vergangenen Tagen hielt sie sich in Istanbul auf, wo sie ihre türkischen Kollegen begleitete und Vertreter der Zivilgesellschaft traf. Solidarisiert hat sich Çalışkan: mit stummem Protest auf dem Taksim-Platz.

SZ.de: Seit drei Wochen erschüttern Proteste und das gewaltsame Vorgehen der Polizei gegen die Demonstranten die Türkei. Sie sind gut vernetzt, Frau Çalışkan. War es absehbar, dass es zu solch einer Eskalation kommt?

Selmin Çalışkan: Überhaupt nicht, das massive Losschlagen der Sicherheitskräfte hat alle überrascht. Freunde und Bekannte von mir sind in ihren Sommerkleidchen in den Gezi-Park gegangen, weil die Protestbewegung völlig friedlich war. Niemand hat damit gerechnet, dass die Polizei mit brutaler Gewalt gegen friedliche Bürger vorgeht. Ein Teil der Demonstranten wäre sonst sicherlich gar nicht in den Gezi-Park gegangen. Und ein anderer Teil hätte Helme und Gasmasken mitgenommen.

Wie kann die Protestbewegung gegen eine drastisch agierende Regierung bestehen?

Die Gruppe ist völlig heterogen, auch deshalb stehen die Chancen gut, dass sie überlebt und sich weiterentwickelt. Es sind eben nicht die üblichen Demonstranten, die da auf die Straße gehen und zusammengeknüppelt werden. Da mischen sich mehrere Gesellschaftsschichten und Generationen, auch Senioren und an sich völlig unpolitische Menschen sind dabei. Die Protestbewegung knüpft inzwischen an Oppositionstraditionen aus den 1980er Jahren an. Damals bildeten sich Volksräte - heute sind es Gezi-Park-Räte, die sich in verschiedenen Parks treffen, um zu diskutieren und sich austauschen. Sie sprechen über eigene Erfahrungen und reden auch darüber, welche Türkei sie in Zukunft haben wollen.

Läuft es auf einen "Türkischen Frühling", auf eine Revolution hinaus?

Von einem "Türkischen Frühling" zu sprechen, wäre verfrüht. Die Demonstranten wollen die Türkei verändern - aber nicht durch eine blutige Revolution, sondern auf demokratische Weise, durch einen Marsch durch die Institutionen. Ein Thema ist etwa die Teilnahme an den Kommunalwahlen 2014.

Die Regierung lässt inzwischen immer mehr Menschen festsetzen, die Rede ist von einer "Verhaftungswelle". Ist das noch Demokratie?

Der Staat Türkei hat eine demokratische Basis, doch wie diese Regierung agiert, ist von Grund auf falsch. Das Land wird überzogen mit Drohungen und Angst. Die Sicherheitsorgane verfolgen Menschen, die stumm auf dem Taksim-Platz demonstrieren, sogar Ärzte, die sich engagieren, bekommen die Wut der Regierung zu spüren. Es gibt sogar ein Internet-Video, auf dem ein Wasserwerfer das deutsche Krankenhaus hier in Istanbul attackiert. Dies alles und die bislang 8000 Verletzten und vier Toten zeigen den Bürgern auf bittere Weise, dass dieses Land noch einen weiten Weg vor sich hat.

Amnesty-Deutschland-Chefin Çalışkan: Selmin Celiskan auf dem Taksim-Platz in Istanbul.

Selmin Celiskan auf dem Taksim-Platz in Istanbul.

(Foto: Amnesty International)

Warum kuschen viele türkische Medien vor der Regierung und berichten kaum über die Proteste?

Es handelt sich einerseits um vorauseilenden Gehorsam. Auf der anderen Seite sind viele kritische Journalisten schon im Gefängnis oder warten auf ihren Prozess. Amnesty International hat auf die Verfolgung unliebsamer Pressevertreter und der Verletzung der Meinungsfreiheit schon im Frühjahr hingewiesen. Auch an diesem Freitag stehen zwei Journalisten hier vor Gericht.

Wegen dieser Knebelung der Pressefreiheit brach allerdings kein Massenprotest los. Die AK-Partei von Premier Erdoğan hat bislang breiten Rückhalt in der Bevölkerung.

Mal sehen, was davon noch übrig ist bei den nächsten Wahlen. Was gerade passiert, verändert die Türkei. Die Leute wachen auf. Die Solidarität wächst - und das lagerübergreifend. Auch unpolitischen Menschen wird plötzlich der Wert von Freiheit und Bürgerrechten klar. Auf die Presseeinschränkungen reagiert die Protestbewegung mit einem eigenen Fernsehkanal, der über das Internet abrufbar ist. Die Regierung hat mit ihrer Gewalt das Gegenteil ihrer Ziele erreicht. Premier Erdoğan kann die Uhr nicht mehr zurückdrehen.

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