Amerika:Überwältigend wie die Sonne

Eine Kombination aus Abenteuer und Zufall, schön und grauenhaft - so ist Amerika: Der Historiker Greil Marcus über die Regierung Bush und den Verfall der demokratischen Kultur.

Der Historiker Greil Marcus ist vielen bekannt als der Chronist der Subkulturen des 20. Jahrhunderts. Aber er hat nicht nur Punk und Rock, sondern generell die Unter- und Innenseiten der Gesellschaft betrachtet, besonders der amerikanischen. Auf deutsch erschien zuletzt sein Buch "Basement Blues". Ein Interview von Jörg Häntzschel.

SZ: Nach dem 11. September haben Sie das klammheimliche Verständnis vieler Linker für al-Qaida scharf kritisiert. Daraufhin wurde Ihnen Verrat an der Sache der Linken vorgeworfen.

Greil Marcus: Ich verstehe mich als Linker, aber meine politische Haltung ist trotzdem so weit von der Susan Sontags entfernt wie von der George Bushs. Susan Sontag war eine von vielen, die nach dem 11. September sagten: Wir sind selbst schuld daran, wir haben es verdient. Das sei die Strafe für Nicaragua, Guatemala, Vietnam.

Als ob al-Qaida sich um Vietnam scheren würde! Auch Robert Fisk vom Guardian oder Edward Said haben so argumentiert. Als einer meiner Freunde sagte, er frage sich, wer wirklich die Schuld trage am 11. September, entgegnete ich: Die Flugzeugentführer natürlich, wer denn sonst?

Als Salman Rushdie noch in seinem Versteck lebte, schrieb er, wenn jemand die Fatwa ausführen und ihn töten sollte, dann wäre dieser Mörder der Schuldige, nicht Khomeini oder irgendwelche "Kräfte".

SZ: Warum stehen heute immer noch so viele Amerikaner hinter Bush?

Marcus: Nach dem 11. September stand das Land unter Schock. Und Bush agierte sehr geschickt. Weil die Demokraten keinen Druck ausübten, hatte er sechs Wochen Zeit, eine Strategie zu entwickeln, die zunächst erfolgreich war.

Bush ist ohnehin ein sehr geschickter Demagoge. Millionen rechter Christen unterstützen ihn bedingungslos. Und schließlich bewundern viele einen reichen motherfucker, wie sie es nennen, der sich benimmt wie der Schläger im Pausenhof, weil sie selbst so sind oder gerne wären. In Amerika erreicht man nichts gegen die Reichen und Mächtigen. Die meisten hoffen nur, dass sie eines Tages selbst reich sein werden.

Überwältigend wie die Sonne

SZ: Müsste die eigene Erfahrung nicht die Mehrheit davon überzeugen, dass Bush nicht auf ihrer Seite steht?

Marcus: Natürlich könnte man nachweisen, dass Bush-Wähler nicht im eigenen Interesse handeln. Es ist erwiesen, dass unter republikanischen Regierungen mehr Menschen sterben: an schlechterer Krankenversorgung, Unterernährung, in Kriegen.

Aber seit wann handeln Wähler im eigenen Interesse? Bush ist ein Lügner, der immer das Gegenteil von dem sagt, was er denkt. Deshalb haben wir eine "Clear Skies Initiative", die mehr Luftverschmutzung erlaubt, eine "No Child Left Behind Initiative" zum Schließen öffentlicher Schulen - und deshalb führen wir einen "War on Terror".

SZ: Und dieser uralte rhetorische Trick funktioniert noch immer?

Marcus: Die Unterstützung für Bush ist zum Teil gerade darauf zurückzuführen, dass er die Wahl eigentlich verloren hat. Wir überzeugen uns davon, dass er Präsident ist, indem wir emphatisch an ihn glauben. Schließlich ist es dem Weißen Haus in beispielloser Weise gelungen, die Presse zu verführen.

Es macht die Journalisten so klein, dass er alles mit ihnen anstellen kann. Doch statt zu meutern, bewundert die Presse das. Es ist wie beim Stockholm-Syndrom. Bush ist jedenfalls weder ein Cowboy, noch ist er dumm. Er stammt aus einer alten neuenglischen Familie, die nach Texas ging, um mit Öl reich zu werden. Sein Akzent ist Fake, niemand in Texas redet so.

SZ: Auf welcher Grundprämisse beruht die Bush-Regierung?

Marcus: Es ist die Überzeugung, dass er und seine Leute ausersehen sind, dieses Land zu führen. Alles, was zählt ist, den Reichtum der Reichen zu mehren, die Armen auszubeuten, dem größten Teil der Bevölkerung jeden Einfluss zu nehmen, so dass sie zu willfährigen Subjekten der Konzerne werden.

Überwältigend wie die Sonne

SZ: Sie wurden 1945 geboren. Wie hat sich Amerika seither verändert?

Marcus: Als ich Kind war, besaß dieses Land eine demokratische Kultur. Diese Kultur wurde durch die Macht der Unternehmen beschädigt, oft mit Unterstützung der Regierungen. Ronald Reagan etwa war eine außergewöhnlich zerstörerische Figur. Er war ein Tyrann, der die Menschen verachtete.

SZ: Stellen die Bush-Jahre nun einen Rückfall in die Ära vor Clinton dar oder findet etwas ganz Neues statt?

Marcus: Es gibt eine neue Qualität. Nicht zuletzt, weil die Republikaner zum ersten Mal seit den Zwanzigern alle drei Zweige der Regierung kontrollieren: das Weiße Haus, den Kongress und den Supreme Court. Neu ist auch der Einfluss der Leo-Strauss-Anhänger. Die meisten der mächtigsten Leute in Washington gehören dieser intellektuellen Sekte an.

SZ: Inwiefern waren frühere republikanischen Regierungen demokratischer?

Marcus: Selbst Reagan arbeitete mit besonnenen, erfahrenen Leuten zusammen. Und als Nixon den Houston-Plan entwarf, mit dem er die Verfassung unterwandern wollte, wusste er immerhin, was er tat. Die Leute um Bush kümmern sich nicht um die Verfassung.

Das einzige, was sie daran interessiert, ist die Begrenzung der Amtszeit des Präsidenten auf zwei Legislaturperioden. Wenn Bush seine Karten geschickt spielt, könnte er sogar das umgehen und für lange Präsident bleiben. Möglich ist jedenfalls, dass diese Regierung das Land auf absehbare Zeit verändert. Schauen Sie nur, wie in Texas und Colorado die Wahlkreise so eingeteilt wurden, dass die Demokraten dort nie mehr Chancen haben werden.

SZ: Amerikas Demokratie war mal ein Vorbild für die Welt.

Marcus: Natürlich waren die letzten Wahlen gefälscht, natürlich haben wir eine Mordrate, die man in Europa nicht nachvollziehen kann. Amerika ist anders. Verbrecher und Outlaws werden hier bewundert.

Aber man darf dennoch nicht vergessen, dass in Amerika die Demokratie viel stärker als in Europa die kommerziellen, sozialen, persönlichen Beziehungen durchdringt und nicht nur eine Frage von Institutionen und Wahlen ist. Genau das hatte Tocqueville im Sinn. Dieses Ideal wird ständig korrumpiert, aber es wird auch ständig zurückerobert.

SZ: Hat Bushs Kampf um die Macht ohne Rücksicht auf Verluste nicht fast etwas Selbstmörderisches?

Marcus: Ich verstehe das Streben nach Macht um ihrer selbst willen ebenso wenig, wie ich einen arabischen Terroristen verstehe, der glaubt, wenn er sich in die Luft sprengt, komme er in den Himmel. Meine Angst betrifft eher die Machtlosigkeit.

Was, wenn sich im Herbst alles gegen Bush wendet? Er selbst und seine Leute sind so überzeugt von ihrem Führungsauftrag, dass sie die Wahlen verschieben könnten: "Ladies and Gentlemen, wir haben Hinweise, dass al-Qaida plant, unsere Wahlen zu stören und wie in Spanien das Ergebnis zu manipulieren. Ich kann dieses Risiko nicht verantworten. Bis nicht jeder Amerikaner seine Stimme abgeben kann, ohne um sein Leben zu fürchten, werden die Wahlen nicht stattfinden. God bless America."

Wahrscheinlich wird es nicht so weit kommen, aber man darf das undemokratische Denken dieser Leute nicht vergessen. Sie haben keine Demut. Wenn man zum Präsident gewählt wird, wacht man normalerweise auf und denkt sich: "Oh Gott, ich bin Präsident - kann ich das? Bin ich nicht nur ein kleiner Angeber?" Bush hatte dieses Gefühl nie. Seine Position ist sein gutes Recht. Man hat es für ihn so eingerichtet, immer haben andere für ihn die Scherben zusammen gekehrt.

SZ: Warum ist die Kritik an Bush nicht lauter?

Marcus: Das Leben in diesem Land ist viel privater geworden. Deshalb hat Bush im Gegensatz zu Kennedy die Amerikaner in dieser Krise auch nie um Opfer gebeten. Das hieße ja, wir wären Teil einer Gemeinschaft.

Bushs Politik basiert darauf, dass jeder an sich selbst denkt. Seit Bush Präsident ist, hat sich im Alltag eine Fuck-you-Mentalität breit gemacht. Sie merken das im Straßenverkehr. Die Politik schlägt sich bis in die banalsten Lebensbereiche nieder.

SZ: Ein recht widersprüchliches Bild, das Sie da von Amerika zeichnen.

Marcus: Amerika hat keinen Boden unter den Füßen. Es ist eine Kombination aus Abenteuer und Zufall, schön und grauenhaft. Wer behauptet, er verstehe Amerika, ist wie jemand, der sich im Spiegelkabinett verirrt.

Er sieht einen fetten Mann, und sagt: "Schau mal, das ist Amerika!" Dann dreht er sich um, und sieht eine sieben Meter lange Bohnenstange: "Nein, das ist Amerika!"

Constance Rourke zitiert in ihrem Buch "American Humour" eine Figur aus dem Frontier-Theater, die sagt: "Wagt nicht, mich mit nacktem Auge anzusehen. Nur durch geschwärztes Glas!" In anderen Worten: Ich bin so mächtig, so überwältigend wie die Sonne. Wer mich ansieht, der erblindet. So ist Amerika.

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