Am Ärmelkanal:Im Dschungel von Calais

Mehr als 3000 Menschen hausen in einer Zeltstadt vor den Toren von Calais. Sie riskieren ihr Leben, um durch den Tunnel nach Großbritannien zu gelangen, abschrecken lassen sie sich nicht.

Von Paul Munzinger, Calais

Um 17 Uhr gibt es Abendessen im Dschungel. Danach sitzen manche ums Lagerfeuer zusammen, einige spielen Fußball mit bunten Plastikbällen, andere streunen ziellos zwischen den Zelten umher, schütteln hier eine Hand, bleiben dort kurz auf eine Zigarette stehen. Und eine Gruppe, einige hundert Menschen jeden Abend, macht sich auf den Weg: auf den Weg Richtung Tunnel, auf den Weg Richtung England. Nicht alle kommen zurück.

Mehr als 3000 Flüchtlinge wohnen am Rand des französischen Küstenorts Calais in einer Zeltstadt, für die sich nicht ohne Grund der Name "der Dschungel" eingebürgert hat: ein Meer aus Zelten und selbstgebauten Hütten aus Holz und Plastik. Ihre Bewohner kommen aus Eritrea und Äthiopien, aus dem Sudan und Nigeria, Afghanistan und Syrien. Manche haben ihre Heimat erst vor wenigen Wochen verlassen, andere leben seit Jahren hier. Und jeder erzählt seine Version derselben Geschichte: Armut und Gewalt in der Heimat, Flucht nach Libyen, im Boot über das Mittelmeer, gestrandet in Calais.

Im Dschungel. Für viele von ihnen soll Calais der letzte Zwischenhalt auf dem Weg zum Ziel ihrer Odyssee sein: Großbritannien. Jeden Abend bewegen sich Hunderte Bewohner des Dschungels in Richtung Eurotunnel. Drei Stunden dauert der Fußmarsch, ehe ein kilometerlanger Zaun, französische Polizisten und mehrspurige Autobahnen den Flüchtlingen den Weg zum Tunneleingang versperren. Neun Menschen sind nach offiziellen Angaben seit Anfang Juni ums Leben gekommen. Sie wurden von Lkws überfahren oder fielen von einem der Schnellzüge, die im Stundentakt zwischen Paris und London den Tunnel passieren. Hilfsorganisationen sprechen von zwölf Opfern.

Marie Chevelle kann die Flüchtlinge nicht davon abbringen, sich für den Traum von einem besseren Leben jenseits des Ärmelkanals in Lebensgefahr zu begeben. Sie arbeitet für Ärzte der Welt in Calais, Ende Juni hat die Hilfsorganisation im Dschungel eine Krankenstation errichtet. Eine Notfallmission, sagt Chevelle, "so wie wir es bei einer internationalen Krise machen". Seitdem erst gibt es dort Toiletten, Wasser und medizinische Versorgung. Doch die sanitäre Situation sei immer noch katastrophal. Jeden dritten Patienten behandeln die Ärzte wegen äußerer Verletzungen, sagt Chevelle. Viele hätten Schmerzen vom Laufen, andere hätten offene Wunden, die sich entzündeten. Und natürlich die Knochenbrüche der Menschen, deren Flucht von einem heranrasenden Auto jäh beendet wird. Fürs Erste - denn weder die Schmerzen noch die Gefahr halten die Flüchtlinge davon ab, es wieder und wieder zu versuchen. "Das sind Menschen, die in ihrer Heimat Folter und Gewalt erlebt haben", sagt Chevelle. "Wenn sie nach Calais kommen, sagen sie sich: Jetzt gehe ich auch den nächsten Schritt, so riskant er sein mag." Das Prinzip der Abschreckung funktioniert nicht in Calais. Das Einzige, was die Flüchtlinge aufhält, ist der vier Meter hohe, von Stacheldrahtschleifen gekrönte Zaun, mit dem die Stadt Calais vor einiger Zeit ihren Hafen in eine Festung verwandelt hat. Den Kanal als blinder Passagier auf einer der Fähren zu überwinden, ist für die Flüchtlinge kaum noch möglich. Stattdessen bringen sie sich im Tunnel in Lebensgefahr. Das Problem ist nicht gelöst, sondern verlagert worden. Das gilt für die Flüchtlinge, das gilt aber auch für Calais.

50 Millionen Euro habe die Flüchtlingskrise die Stadt seit Jahresbeginn gekostet, schätzt Emmanuel Agius, zweiter Bürgermeister von Calais und Mitglied der Republikaner, deren Chef Nicolas Sarkozy heißt. Die Touristen blieben aus, sagt Agius, reiche Engländer kauften sich keine Sommerresidenzen an der französischen Küste mehr, Firmen trauten sich nicht, in Calais zu investieren. "Ich will die Flüchtlinge nicht kriminalisieren", sagt Agius. "Aber Fakt ist: Calais ist heute keine anziehende Stadt mehr. Sie wird jeden Tag weiter nach unten gezogen."

21 Millionen

Menschen haben im vergangenen Jahr den 1994 eröffneten Tunnel zwischen Calais in Frankreich und dem englischen Folkestone benutzt. 37 000 Fluchtversuche hat der Betreiber Eurotunnel in diesem Jahr auf französischer Seite gezählt. Mehr als 3000 Migranten warten in Calais auf eine Gelegenheit, nach Großbritannien zu gelangen.

Agius sieht seine Stadt mit einem Problem alleingelassen, das ganz Europa betreffe - und gemeinsam lösen müsse. Calais ist für ihn eine "Märtyrerstadt", die die Zeche der anderen zahle. Vor allem der britische Premier David Cameron verweigere jede Diskussion über das Thema, sagt Agius. Sollten die Briten sich im kommenden Jahr für einen Austritt aus der EU entscheiden, werde Calais beantragen, dass die französisch-britische Grenze nach England verlegt wird. "Das wahre Problem Europas ist nicht Griechenland, es ist die Migration", sagt Agius. "Aber für die Rettung Griechenlands haben wir 80 Milliarden Euro bezahlt. Wir verlangen nur 50 Millionen, damit Calais nicht stirbt."

Auch Florence Boreil, die für das UN-Flüchtlingshilfswerk in Calais ist, glaubt, dass es nur eine gesamteuropäische Antwort auf die Krise in der Stadt geben könne. Eine flexiblere Auslegung des Dublin-Abkommens könnte Flüchtlingen helfen, legal nach Großbritannien einzureisen, wenn sie dort Familie haben. Und für jene, die sich dort nur bessere Chancen auf Asyl, Arbeit und ein sorgenfreies Leben erhofften, gelte es, die Bedingungen im Rest Europas zu verbessern. Sicherheit und ein Dach über dem Kopf seien der beste Weg, Flüchtlinge von der Flucht abzubringen.

Frühmorgens kehren die Flüchtlinge, die es nicht in den Tunnel geschafft haben, in den Dschungel zurück. Eine Karawane müder, enttäuschter Menschen. Tagsüber schlafen sie. Damit sie es in der nächsten Nacht wieder probieren können.

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