Alltag in deutschen Gefängnissen:Die erbärmliche Realität der Täter und Opfer

Kunsttherapie in der JVA Aichach, 2013

Therapie für gefährliche Verurteilte: Kunstprojekt in der JVA Aichach, ein Scherenschnitt mit dem Titel "Zusammen und allein".

(Foto: Stefan Puchner)

Der einstige JVA-Leiter Thomas Galli beschreibt den Alltag in Gefängnissen - und macht radikale Vorschläge zur Änderung des Strafvollzugs.

Rezension von Martin Hagenmaier

Freiheitsstrafen sind nicht das meistgebrauchte Instrument der Justiz, aber sie machen die größten Probleme. Die Medien berichten vom Alltag hinter Gittern im Vorbeigehen. Die Politik gefällt sich in wiederkehrenden Verschärfungsdebatten.

Fast niemand stellt ernsthaft die Frage, welche Ergebnisse die Strafhaft oder eine Sicherungsverwahrung haben kann - außer der Vernichtung der persönlichen und gesellschaftlichen Existenz der Bestraften. Der Bundesgerichtshof hat angesichts dieser Lage speziell für die etwa 500 Sicherungsverwahrten Therapien angeordnet, durch die ihre Freilassung angesteuert werden soll.

Der Kriminologe und JVA-Leiter (2013-2016) Thomas Galli schildert in seinem neuen Buch den für alle, aber besonders für als gefährlich geltende Gefangene, oft heftigen Alltag hinter Gittern einschließlich des Weges dorthin in neun umfangreich erzählten Fällen.

Besonders interessant aber ist unter diesen zuerst der Fall eines Beamten: Wie der Staatsdiener Hubert hoffnungsvoll zur Ausbildung antritt und dann im bestürzenden Gefängnisalltag allmählich zugrunde geht oder noch besser: zugrunde gerichtet wird. Das geschieht durch herablassende, fast vernachlässigende und auch ungnädige Personalführung, durch mangelnden Rückhalt, durch hierarchische Verantwortungsverteilung, in der das Bauernopfer für alle Fälle durch seinen Rang vordefiniert zu sein scheint.

Die Ministerien verlangen in der Regel, von Verantwortung freigehalten zu werden

Grusel verursacht auch die fast schon kafkaeske Idiotie der Aktenvermerke, die man stets so formulieren muss, dass man sich selbst etwa als Abteilungsleiter darin nicht angreifbar macht. Es erscheint so, als mutiere der Mitarbeiter im Strafvollzug zum Feind seines Kollegen. Die Ministerien verlangen in der Regel, von Verantwortung freigehalten zu werden. Von einer Solidarität untereinander oder vom Rückhalt des Dienstherrn keine Spur. Schon das macht das Gefängnis gefährlich.

Thomas Galli schildert sodann ausführlich den Weg vom "kleinen Alltagsstraftäter" zum Opfer Mitgefangener, die dadurch selbst vom ärgerlichen "Kleinkram" zum Mordurteil, mit anderen Worten, zu "gefährlichen" Tätern fortschreiten. "Der Verwahrte" gerät nach seiner lange verzögerten Entlassung in eine nahezu unhaltbare Situation, in der er eine sinnlose, aber nachvollziehbare Gewalttat begeht.

Ein Zirkusdirektor bleibt ein Schlitzohr, der in einer aussichtslosen wirtschaftlichen Lage zum Gewalttäter wird. In Haft nutzt er die Möglichkeit zum Heiraten für eine mögliche Aufbesserung seiner Situation. Ein Jugendlicher erfährt die lebensnotwendige Anerkennung seiner Mitmenschen erst nach einer ebenso schweren wie sinnlosen Gewalttat ausgerechnet im Jugendgefängnis, wo Gewalttäter hoch im Kurs stehen.

Die Opferperspektive entwickelt der Autor am Beispiel einer vergewaltigten Frau, die ihre Vergewaltigung aus der Sicht von Polizei und Gerichten zu sehen lernen muss, um zu bestehen. Der Sexualstraftäter beweist seine Gefährlichkeit nach langer Behandlung in der Sozialtherapie erneut.

Jeder Mensch kann im Grundsatz eine Gefahr für andere werden

Lernt er in der Sozialtherapie etwa anderes als er soll? Seine Therapeuten machen es ihm ebenso vor wie die politische Ebene: Es kommt auf den Schein an und darauf, den Schein zu wahren. "Es kam darauf an, ehrlich und glaubwürdig zu wirken", nicht es zu sein.

Gutachten, auf die vor allem die Gerichte setzen (müssen), können Gefährlichkeit kaum definieren oder nicht zuverlässig messen. Wer will einem Menschen, der schon einmal einem Mitmenschen gefährlich wurde, bescheinigen, er sei nicht gefährlich. Und wer übernimmt die Verantwortung in Zweifelsfällen? Wer eingesperrt bleibt, kann nicht beweisen, dass er nicht (mehr) gefährlich ist.

Jeder Mensch kann im Grundsatz eine Gefahr für andere werden. Das zeigen auch Gallis weitere Fälle. Wut und Angst sind die Triebfedern. Gutachten beugen lediglich der Verantwortung der amtlichen Beteiligten vor und schieben den Schwarzen Peter hin und her.

Radikale Vorschläge für eine Reform des Strafrechts

Daher schlägt Galli letztlich überzeugend vor, den ganzen Zauber von gutachterlicher Einschätzung, Umschaltung vom Schuld- auf das Gefährlichkeitsprinzip und endloser therapeutischer Anstrengungen zu entsorgen. Generell sei eine politische und gesellschaftliche Umorientierung im Strafrecht und im Strafvollzug notwendig, die vor allem auf dem Fundament der Selbstreflexion steht. Realistisch erscheint das nicht bei der gegenwärtigen Weise, Verantwortung und Schuldzuschreibung zu praktizieren. Realismus aber verändert keine Gesellschaft.

Das Strafrecht muss zwischen der Integrität der Gesellschaft und der Einzelnen untereinander abwägen. Wer Einzelne oder die Gesellschaft schädigt, sollte nach Galli nicht eingesperrt, behandelt oder begutachtet werden. Er soll (unter Betreuung und Anleitung) gemeinnützige Arbeit leisten oder zu Maßnahmen veranlasst werden, die es heute im Gefängnis gibt, die aber nur in Freiheit wirken und resozialisieren können.

Wer aber wirklich gefährlich zu sein scheint, für den schlägt Galli eine Isolierung in einer Dorfanlage oder auf einer Insel vor, wo in staatlichen Betrieben für die Gemeinschaft gearbeitet wird. Ein Gefängnis sei dafür nicht geeignet.

Wiedergutmachung statt Bestrafung

Die angestrebte Lösung überzeugt aber nicht für den ganzen Strafvollzug. Die Justiz hat bereits mit dem Täter-Opfer-Ausgleich (TOA) ein besseres Instrument geschaffen. Dieses wird aber viel zu wenig genutzt. Der TOA ist eine Form der Restorative Justice (Heilende Gerechtigkeit).

Hier stehen Anerkennung zugefügten "Schadens", Verantwortungsübernahme gegenüber dem Tatopfer und Wiedergutmachung im Zentrum eines Mediationsverfahrens. Strafe wird in vielen Fällen überflüssig. Für die heute etwa 500 Sicherungsverwahrten könnte Gallis Lösung aber sinnvoll sein.

Einen Menschen viele Jahrzehnte in einer Zelle einzusperren und andauernden therapeutischen Zumutungen auszusetzen, kann trotz höchstrichterlicher Absegnung jedenfalls keine angemessene Lösung sein.

Wer das Buch von Thomas Galli liest, kann schon ohne die Eingangs- und Schlussüberlegungen die erbärmliche Realität von Tätern, Verurteilten, Opfern und Gefängnismitarbeitern, nicht zu reden von der Problematik der Justizpolitik, nahezu miterleben. Manche Passagen lesen sich geradezu beklemmend. Das Buch hat zudem den Vorzug, dass man praktisch an jeder Stelle einsteigen kann, um in die bestürzende Welt gefährlicher und gefährdeter Mitmenschen einzutauchen.

Andererseits fragt sich der Leser, ob es auf die Dauer ausreicht, die Bestürzung sachkundig zu beschreiben, ohne in der Sache selbst, wenn man wie der Autor an leitender Stelle sitzt (saß), energische Schritte zur Änderung der Umstände einzuleiten. Das ist angesichts der geschilderten Umstände erheblich aufreibender als sie zu Papier zu bringen.

Thomas Galli: Die Gefährlichkeit des Täters, Das Neue Berlin, 2017, 176 Seiten, 12,99 Euro. E-Book: 9,99.

Martin Hagenmaier ist Theologe und Kriminologe. Er war Seelsorger im Gefängnis, heute ist er unter anderem Mediator in Strafsachen. Zuletzt erschien von ihm "Betrüger - Mörder - Diebe. Straftäter und Gesellschaft", TBT Verlag 2017.

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