Alarmierende Pflegequalität:"Schlechte Pflege ist das Produkt eines Teufelskreises"

Nur Experten erkennen heute die Qualität eines Pflegeheimes, sagt Adelheid von Stösser, Chefin des Pflege-Selbsthilfeverbandes. Sie will deshalb ein Bewertungssystem etablieren, das der Hotellerie entlehnt ist.

Thorsten Denkler

sueddeutsche.de: Frau von Stösser, nach dem aktuellen Prüfbericht des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen scheint die Pflege in einem katastrophalen Zustand zu sein. Was läuft da schief?

Adelheid von Stösser

Adelheid von Stösser

(Foto: Foto: privat)

von Stösser: Das größte Problem ist, dass die Pflegeheime und Heimbetreiber vollkommen freie Hand haben. Gleichzeitig versagt die Kontrolle. Wir haben Gesetze und Richtlinien genug. Nur es interessiert niemanden, ob die umgesetzt werden. Wer Heimbewohner schlecht versorgt, der muss nicht mit Konsequenzen rechnen. Außerdem müssen die Pflegestufen abgeschafft werden. Wir müssen wieder hin zu einer Betreuung, die das Wohl der Menschen im Auge hat, also am Ergebnis orientiert ist.

sueddeutsche.de: Woran liegt es, dass Altenpfleger, Heimleiter und Betreiber Menschen offenbar bewusst dahinsiechen lassen?

von Stösser: Manchmal ist schlechte Pflege das Produkt eines Teufelskreises. Stationskräfte, denen das alles nicht wichtig ist, Heimleiter, die einfach fehl am Platz sind, zu wenig Personal.

sueddeutsche.de: Würden Sie heute ihre Mutter einem Altenpflegeheim anvertrauen?

von Stösser: Es gibt durchaus Heime, die ich empfehlen kann und in denen die Menschen wesentlich mehr Zuspruch und eine bessere Versorgung erfahren, als wenn sie alleine zu Hause blieben.

sueddeutsche.de: Woran erkenne ich ein gutes Pflegeheim?

von Stösser: Im Moment ist das schwer. Die Angehörigen sind meist abhängig von den Selbstbezeugungen der Einrichtungen, die alle natürlich das Blaue vom Himmel versprechen. Um wirklich die Qualität der Heime erkennen zu können, muss man schon Experte sein. Unser Pflege-Selbsthilfeverband ist deshalb mit anderen gerade dabei, ein Sterne-System zu entwickeln, ähnlich den Sternen in der Hotel-Branche.

sueddeutsche.de: Die Prüfberichte des Medizinischen Dienstes sollen demnächst für jedes Pflegeheim veröffentlicht werden müssen. Ist das ein Fortschritt?

von Stösser: Wir haben das schon lange gefordert. Es gibt ja Berichte, die nahelegen, dass ein Heim geschlossen werden müsste. Dennoch darf das Heim weiter Bewohner aufnehmen, ohne dass die eine Chance haben zu erfahren, was wirklich in dem Heim los ist. In der jetzigen Form aber sind die Berichte nicht wirklich hilfreich. Auch hier muss man Experte sein, um herauszufinden, wo es in einem hakt.

sueddeutsche.de: Die Zustände in den Heimen werden seit Jahren immer wieder bemängelt. Wie lange würde es dauern, die Missstände zu beheben?

von Stösser: Wenn Angehörige und Bewohner die Qualität eines Heimes auf einen Blick erkennen können - etwa mit unserem Sterne-System -, die Kontrollen intensiviert werden und auch Sanktionen erfolgen, dann würde sich die Situation in den Heimen schlagartig verbessern. Heute müssen sie es einfach nicht besser machen.

Adelheid von Stösser ist ausgebildete Krankenschwester und Vorsitzende des Pflege-Selbsthilfeverbandes. Sie ist Begründerin des sogenannten Stösser-Standards in der Altenpflege, der inzwischen von einigen Hundert Pflegeheimen angewandt wird, um die Pflege-Qualität zu verbessern.

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