Aids in der Ukraine:"Es ist egal, woran ich sterbe"

Welt-Aids-Tag: Nirgendwo in Europa ist es so schlimm wie in der Ukraine. Fast eine halbe Million Menschen dort sind HIV-positiv - weil der Staat zu wenig tut, sind NGOs aktiv.

Matthias Kolb, Donezk

Es ist ein fast magisches Ritual. Sieben Augenpaare richten sich auf Kolja: Der magere Mann mit der riesigen Brille zerdrückt ein paar Ecstasypillen mit einer Flasche, füllt das Pulver in eine Spritze und mischt es mit Spiritus.

Aids in der Ukraine: Maschas Vater stirbt, als sie 15 Jahre alt ist. Zwei Jahre später fängt sie zu spritzen an. Im September 2007 stirbt sie an einer Überdosis.

Maschas Vater stirbt, als sie 15 Jahre alt ist. Zwei Jahre später fängt sie zu spritzen an. Im September 2007 stirbt sie an einer Überdosis.

(Foto: Foto: Andrea Diefenbach)

Danach tröpfelt er die Flüssigkeit auf einen Teller, den er vorher mit einem Fetzen geputzt hat, und zündet sie an. Kolja bereitet Vint zu, jene in Osteuropa beliebte billige Droge aus Amphetaminen. Oft benutzen mehrere Süchtige die gleiche Spritze und infizieren sich so mit HIV.

Neun Leute sitzen in der Zweizimmerwohnung und nur Erik achtet nicht auf Kolja. Der stämmige 28-Jahrige kramt stattdessen in seiner schwarzen Plastiktüte und wirft schließlich einen Packen neuer Spritzen auf die Matratze. "Wo habt ihr die alten Spritzen hingelegt? Braucht ihr Alkoholtupfer? Oder Kondome?", fragt er und blickt hinüber zu Ira und Nastja.

Der Sozialarbeiter aus der ostukrainischen Stadt Makejewka kennt seine Kunden - und deren Probleme, denn er war selbst lange drogensüchtig. Die Frauen verdienen das Geld für ihre Sucht als Prostituierte und sind kurz vor ihm aus der Kälte gekommen. Ira beobachtet Kolja, der in der Küche auf dem alten Gasherd das Drogengemisch erhitzt. Ihre Augen sind müde, die Wangen eingefallen und die Arme sind mit Einstichstellen übersät. Sie nickt Erik zu: "Lass welche da! Danke!"

Fast eine halbe Million Menschen infiziert

Erik drückt kurz ihre Hand, legt eine Broschüre über Tuberkulose und einen Flyer der Nichtregierungsorganisation Amikus auf den Tisch. Seit drei Jahren arbeitet er für die Hilfsorganisation und versucht, die Narkomani über Aids aufzuklären und durch Spritzentausch das Infektionsrisiko zu senken. Bisher haben sich Kostja, Ira oder Nastja nicht testen lassen. Kostja, der viel älter wirkt als 32, kommt aus der Küche zurück: "Ich will das nicht. Es ist egal, woran ich sterbe."

Die Ukraine ist das Land mit der höchsten HIV-Infektionsrate in Europa: Ende 2007 waren 122.000 der 47 Millionen Ukrainer als HIV-positiv registriert, doch UNAIDS schätzt die Zahl auf 440.000. Dabei weiß nur etwa jeder Fünfte, dass er infiziert ist. Dadurch verbreitet sich das Virus weiter: In den ersten zehn Monaten dieses Jahres wurden alleine 15.658 Neuinfektionen gemeldet.

Anders als in Westeuropa hat sich die Immunschwächekrankheit in der Ukraine anfangs nicht durch Sexualkontakte verbreitet, sondern durch Drogenkonsum. Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) spritzen sich knapp zwei Prozent der Ukrainer Drogen - auf Deutschland übertragen wären dies 1,5 Millionen Menschen.

Die Probleme begannen mit dem Kollaps der Sowjetunion 1991: Damals landeten viele Ukrainer in der Arbeitslosigkeit. In der Region Donezk, in der auch die 380.000-Einwohnerstadt Makejewka liegt, mussten viele Bergwerke und Fabriken schließen, das Gesundheitssystem brach zusammen. Wer einen Job hatte, bekam oft kein Gehalt. Zugleich häuften einige große Vermögen an: Rinat Achmetow, der reichste Ukrainer, stammt aus Donezk, wo man heute mindestens so viele Porsche-Geländewagen und Mercedes-Limousinen wie in München sieht.

In Makejewka packt Erik seine Sachen zusammen und verabschiedet sich. "Ihr könnt mich immer anrufen, wenn ihr neue Spritzen braucht", sagt er und diktiert Ira seine Handynummer. Viele Kunden melden sich per SMS, andere vereinbaren Zeichen. Da wird Licht in Zimmern in einem bestimmten Abstand an- und ausgeschaltet oder Erik klopft mehrmals von außen an die Fensterscheibe, bevor er die Wohnung betritt.

"Viele haben Angst vor der Polizei", berichtet Erik. Immer wieder würden die Süchtigen von den schlechtbezahlten Milizionären verprügelt, vergewaltigt oder verhaftet, wenn gerade das Plansoll erfüllt werden muss. In der Ukraine wird selbst der Besitz kleinster Mengen von Drogen oder einer benutzten Spritze hart bestraft - manchmal stecken die Beamten selbst dem Junkie Stoff zu.

"Natürlich kann man sich freikaufen, aber die meisten geben ihr Geld für Drogen aus", sagt Erik. Hinzu kommt: Süchtige und Huren seien so stigmatisiert, dass die Milizionäre keine Strafen von ihren Vorgesetzten zu befürchten hätten, berichtet Erik auf dem Weg zur nächsten Wohnung.

Dort braucht er keinen Code, um Igor die sterilen Spritzen und Alkoholtupfer zu bringen. Als er gerade die kleine Plastiktüte mit den gebrauchten Spritzen einsteckt, dreht sich ein Schlüssel im Schloss: Es ist die Mutter, die sich einen Weg durch die vollgestellte Wohnung bahnt und Erik freundlich zunickt. Sie reden kurz, wahrend Igor bereits im Zimmer verschwindet.

"Die Mutter versorgt ihn mit Essen, das ist eher selten", sagt Erik - oft verstoße die Familie die Junkies. Zwischen zehn und zwanzig Kunden trifft Erik täglich auf seinem Rundgang. Er ist auch samstags und sonntags unterwegs: "Die Süchtigen kennen ja auch kein Wochenende."

Lesen Sie auf der nächsten Seite, welche katastrophalen Auswirkungen die Aidsepidemie für die Ukraine haben könnte.

"Es ist egal, woran ich sterbe"

Dank der Spritzenaustauschprogramme sei das Infektionsrisiko erheblich gesunken, berichtet Valentina Pawlenko, die Regionalkoordinatorin der International HIV/Aids Alliance in Donezk. Die Region ist neben Odessa, Kiew und Dnipropetrowsk am schwersten von der HIV-Epidemie betroffen, aber auch direkt an der EU-Außengrenze, in der Westukraine, nehmen die Fälle zu.

Aids in der Ukraine: Leiter Oleh Shtein mit zwei seiner Patienten: "Der Kampf gegen die Sucht muss im Kopf gewonnen werden." (zum Vergrößern bitte klicken)

Leiter Oleh Shtein mit zwei seiner Patienten: "Der Kampf gegen die Sucht muss im Kopf gewonnen werden." (zum Vergrößern bitte klicken)

(Foto: Foto: Kolb)

Die Mitarbeiter hätten wenig Probleme mit der Miliz, da ihre Arbeit von den Behörden immerhin toleriert werde - jedoch fühlt sich keine staatliche Stelle für Prostituierte oder Straßenkinder zuständig.

Valentina Pawlenko hat jedoch beobachtet, dass sich das Virus immer häufiger durch Sex ausbreite: "Die synthetischen Drogen sorgen für Rauschzustände und da denkt keiner an Verhütung." Bis heute gilt der Gebrauch von Kondomen in der Ukraine als unmännlich und die Präventionsprogramme sind unzureichend und schlecht koordiniert. Zwar wurde 2008 das staatliche Budget für die Bekämpfung von HIV/Aids auf 19 Millionen Euro erhöht, aber dies reicht bei weitem nicht aus, um die Epidemie in den Griff zu bekommen.

Dabei sind die Prognosen verheerend: Die Weltbank hat 2006 errechnet, dass bis 2014 rund 800.000 Ukrainer HIV-positiv sein werden. Dann werde die Lebenserwartung um fünf Jahre sinken und es zusätzlich 42.000 Waisen und bis zu 172.000 Halbwaisen im Land geben. Zudem werde sich Tuberkulose weiter ausbreiten. Dabei stirbt schon heute eine große Zahl HIV-Infizierter daran.

Ohne Perspektive

Auf dem Weg zum Amikus-Büro klingelt Eriks Handy: Zwei Jugendliche brauchen neue Spritzen und so springt der 28-Jährige in den nächsten Bus und fährt zum Treffpunkt. Dima und Igor warten auf einem Feld hinter einer alten Fabrik. Im Dunkeln ist nur das Glimmen der Zigaretten zu sehen, im Gras liegen zwei Mountainbikes. Die 16-Jährigen sind schweigsam und verraten wenig: "Mein Bruder spritzt sich auch Schirka", sagt Dima, also habe er das Opiatgemisch auch probiert. "Ich kann jederzeit aufhören, aber was soll man hier denn sonst machen?", fragt er. Er klopft Erik auf die Schulter, hebt sein Fahrrad hoch und rollt davon.

Die Perspektivlosigkeit sei eines der größten Probleme, meint Erik nachdenklich. Auch er habe aus Langeweile mit den Drogen angefangen, seine Eltern hatten sich da schon längst getrennt. Momentan sei die Stimmung besonders trostlos: Die Finanzkrise hat auch die Ukraine hart getroffen und in der Region Donezk mussten viele Stahlhütten Arbeiter entlassen.

Seit der Unabhängigkeit 1991 hat die Ukraine sechs Millionen Einwohner weniger - viele suchten ein besseres Leben im Ausland. "Viele Jugendliche glauben nicht daran, dass sie nach der Schule eine Arbeit finden werden", berichtet Erik, dessen jüngster Kunde gerade mal zwölf Jahre alt ist.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie sich im Rehabilitationszentrum Süchtige für die Zeit nach den Drogen vorbereiten.

"Es ist egal, woran ich sterbe"

Wer mit den Drogen aufhören will, muss oft selbst lange warten. Im Bezirk Donezk mit knapp fünf Millionen Einwohnern gibt es ein staatliches Rehabilitationszentrum mit nur 60 Plätzen - dabei gibt es schätzungsweise 100.000 Süchtige. 25 Minuten dauert die Fahrt von der Stadtmitte bis zum Rehabilitationszentrum. Neben dem Eingang hängt ein Schild mit der Aufschrift "Dein Sieg".

Leiter Oleh Shtein ist stolz auf sein Zentrum, das im Seitentrakt eines Krankenhauses untergebracht ist: "Bei uns bleiben die Jungs und Mädchen ein Jahr lang, denn wir bereiten sie auf den Alltag ohne Drogen vor. Der Kampf gegen die Sucht muss im Kopf gewonnen werden."

Strenge Regeln

Der 25 Jahre alte Stas ist wegen seiner Alkohol- und Tablettenprobleme seit Juni im Zentrum: "In den ersten zwei Monaten darf niemand mit Eltern und Freunden telefonieren oder das Gelände verlassen." Der strikte Tagesplan lässt kaum Zeit zum Nachdenken: Aufstehen um sechs, Gymnastik, danach Frühstück und Arbeit. Stas hilft in der Küche, es gibt mehrere Werkstätten und im Haus wird ständig renoviert - weshalb es stets nach Farbe riecht.

Rauchen ist strengstens verboten, gegessen wird gemeinsam und um halb zehn wird das Licht in den Mehrbettzimmern gelöscht. Neben Ärzten und Psychologen gibt es auch im Rehabilitationszentrum Sozialarbeiter. Fast alle Berater sind ehemalige Narkomani. "Ein Patient kann einem Arzt etwas vorschwindeln", sagt Oleh Shtein, aber er werde es nicht schaffen, einen Ex-Junkie zu täuschen.

Mark ist einer jener Ex-Junkies, die das Gefühl kennen, wenn sich alles um die Droge dreht. Im Jahr 2000 fing er als Schüler an, Marihuana zu rauchen, später warfen er und seine Freunde Ecstasypillen ein: "Mir war langweilig, meine Eltern hatten Geld, aber ich war ihnen egal."

Bald fand Mark sein Rauschgift: Fünf Jahre lang schluckte er Tramadol, ein Medikament mit einer ähnlichen Wirkung wie Opium. "Ich habe es in Apotheken gekauft, teilweise standen 200 Leute an, um sich das Zeug zu holen." Damals kostete eine Packung 14 Griwna (umgerechnet 2 Euro), doch seit die Regierung den Preis auf 200 Griwna erhöhte, ist Tramadol nicht mehr populär, aber es kommen immer wieder neue Mittel auf den Markt.

"Ich versuche, die Jungs wie Stas zu motivieren, dass sie auch ohne Drogen glücklich im Leben sein können. Ich habe es ja auch geschafft", sagt Mark. Außerdem besuchen er und seine Kollegen regelmäßig Schulklassen, um über Drogen und Aids aufzuklären. Zwei Drittel der Patienten seien HIV-positiv, berichtet Oleh Shtein. Wer bereits an Aids erkrankt ist, der bekomme im Rehabilitationszentrum auch die nötigen Medikamente für die antiretrovirale Therapie (ART), um die Verbreitung des Virus im Körper zu stoppen.

Lesen Sie auf der letzten Seite, wieso es in der Ukraine weiterhin viel zu wenig Medikamente für Aidspatienten gibt.

"Es ist egal, woran ich sterbe"

Laut WHO und UNAIDS erhält nur ein Drittel der Patienten die für die antiretrovirale Therapie benötigten Medikamente. Dies deckt sich mit den Erfahrungen des regionalen Aidszentrums in Donezk.

Laut Nikolai Graschdanow werden momentan 1560 Patienten mit ART behandelt. Der Chefarzt klagt: "Heute bräuchten 5000 Patienten die Medikamente." Für 2009 wurden Graschdanow 3200 Dosen zugesichert - doch das war vor der globalen Finanzkrise. Die Ukraine konnte nur durch einen Milliardenkredit des IWF vor dem Bankrott gerettet werden und so fürchten viele Gesundheitsexperten, dass die ukrainische Regierung dies als Vorwand nützen könnte, um nicht mehr investieren zu müssen.

Dabei ist das Aidszentrum bisher auch dank deutscher Hilfe gut ausgestattet: Das Labor ist modern, in der Poliklinik arbeiten Zahn- und Kinderärzte, zu denen nicht nur HIV-positive Patienten kommen. "Dies ist wichtig, denn wir wollen keine Stigmatisierung", sagt Karsten Hein. Er hat einen Dokumentarfilm über die Aids-Epidemie in der Ukraine gedreht ("Am Rande" wird am Montagabend um 23.25 Uhr auf Arte gezeigt) und mit Bekannten eine Partnerschaft zwischen der Berliner Auguste-Viktoria-Klinik und dem Aidszentrum aufgebaut: Die deutschen Ärzte und Pfleger helfen bei der Ausbildung und investieren in die Ausstattung. Auch die Partnerstadt Bochum sammelt Spenden für die Behandlung leukämiekranker Kinder und betreut Projekte.

Die Regierung schweigt

Dabei kommt das meiste Geld vom 2002 gegründeten "Globalen Fonds zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Malaria", den Deutschland jährlich mit 200 Millionen Euro unterstützt. Nachdem dessen Fördermittel 2004 durch "Missmanagement" in den staatlichen Behörden versickerten, sind nun mit der International HIV/Aids Alliance und dem "Allukrainischen Netzwerk der Menschen, die mit HIV/Aids leben" zwei Nichtregierungsorganisationen für die Verteilung der Millionen zuständig - 300 NGOs und Selbsthilfegruppen sind in der Ukraine aktiv. Externe Prüfer loben das hohe Engagement, aber viele Mitarbeiter seien überfordert.

Die Expertin Anja Teltschik, die seit über zehn Jahren in Osteuropa im Gesundheits- und Sozialsektor arbeitet und heute Unicef und die WHO berät, betont: "Diese Epidemie lässt sich allein nicht durch Bemühungen der Zivilgesellschaft und der internationalen Gemeinschaft eindämmen." Der Staat müsse sich seiner Verantwortung gerade bei der Behandlung der Infizierten stellen.

Ende November wurde in Kiew ein Abkommen über die vertiefte Zusammenarbeit zwischen Deutschland und der Ukraine im Gesundheitswesen unterzeichnet. So soll eine umfassende Präventionskampagne eine gesellschaftliche Debatte auslösen. Die Stigmatisierung ist so groß, dass sich viele gar nicht erst testen lassen oder Infizierte ihren Status verschweigen, um etwa in Krankenhäusern nicht abgewiesen zu werden.

Zwar ist es dank der Unterstützung aus dem Ausland und dem Engagement der Zivilgesellschaft gelungen, die Rate der Infizierungen von Babys durch ihre HIV-positiven Mütter um zwei Drittel zu senken und Methadonprogramme zu starten, aber trotzdem steigt die Zahl der Neuinfektionen seit Jahren stetig an.

"Es fehlt an einer landesweiten Präventionsstrategie, die koordiniert umgesetzt wird", stellt Anja Teltschik fest. Noch dringender braucht das Land aber politische Führung: Zwar hat Präsident Viktor Juschtschenko den Kampf gegen HIV 2007 zur "nationalen Aufgabe" erklärt - allerdings sind Juschtschenko und Premierministerin Julia Timoschenko heute heillos zerstritten, so dass sich in der Praxis nichts verändert.

Auch Sozialarbeiter Erik glaubt nicht, dass die ukrainischen Politiker künftig das Problem ernster nehmen werden. "Neulich hieß es im Fernsehen, dass von unseren 450 Abgeordneten im Parlament 400 Dollarmillionäre sind", sagt er kopfschüttelnd. "In deren Glitzerwelt existieren Drogensucht oder Aids einfach nicht, also tun sie nichts dagegen."

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