AI-Jahresbericht 2017/18:Amnesty warnt vor der "Dämonisierung" von Minderheiten

AI-Jahresbericht 2017/18: Aus Myanmar fliehende Rohingya im Oktober 2017

Aus Myanmar fliehende Rohingya im Oktober 2017

(Foto: FRED DUFOUR/AFP)

Weltweit leiden Millionen Menschen unter den Folgen einer zunehmenden Ausgrenzung, warnt Amnesty International im aktuellen Jahresbericht. Auch im Westen setzen Politiker zunehmend auf dieses Mittel.

Von Markus C. Schulte von Drach

Ein Jubiläum ist eigentlich ein Grund zum Feiern. Und jenes, das im Dezember 2018 bevorsteht, ist es ganz besonders: "Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren", unabhängig von Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion oder Herkunft. Vor 70 Jahren haben die Vereinten Nationen die Menschenrechtscharta, in der dieser Satz steht, verabschiedet.

Doch das Jubiläum in diesem Jahr "macht es uns schmerzlich bewusst, dass unsere Menschenrechte alles andere als selbstverständlich sind", beginnt Salil Shetty, Generalsekretär von Amnesty International (AI), den Jahresbericht 2017/18 der Organisation. Denn auch das vergangene Jahr war aus Sicht der Aktivisten geprägt von unzähligen Angriffen auf die Menschenrechte.

Dazu kommt, dass in etlichen Ländern - auch im Westen - systematisch ganze Gruppen von Menschen ausgegrenzt und diskriminiert wurden.

Minderheiten werden stigmatisiert - auch in Europa

Was Generalsekretär Shetty im Jahr des Jubiläums der Erklärung der Allgemeinen Menschenrechte besonders umtreibt, ist das, was er als "Dämonisierung" bezeichnet: Gleich sechs Mal spricht er dieses psychologische Werkzeug an, mit dem weltweit Fremde oder Minderheiten zu legitimen Opfern von Ausgrenzung, Unterdrückung, Vertreibung oder sogar Lynchjustiz gemacht werden. Man muss die Opfer natürlich nicht gleich zu Dämonen erklären - es reicht, sie zu diffamieren und zu entmenschlichen. Das aber, so Amnesty, findet in erschreckender Weise auch in Europa statt.

In Ungarn etwa: Dort "stigmatisiert die Regierung von Viktor Orbán zivilgesellschaftliche Organisationen, die sich kritisch über sie äußern, als 'ausländische Agenten' und als Spione und Staatsfeinde", sagt Markus Beeko, AI-Generalsekretär in Deutschland. Auch Polen wird im AI-Bericht heftig kritisiert - und die Menschenrechtsaktivisten können sich hier sogar auf die Europäische Kommission berufen. Auch die befürchtet, dass die Unabhängigkeit des Verfassungsgerichts durch die Justizreform "ernsthaft untergraben" worden sei. Die Regierung in Warschau versuche nun, ihren Einfluss auch auf andere Zweige des Justizwesens wie das Oberste Gericht, den Nationalen Justizrat und die ordentlichen Gerichte auszuweiten, heißt es im AI-Bericht.

Iran, Myanmar, Türkei: Vielerorts verschlechtert sich die Lage weiter

Wie immer hat Amnesty auch detaillierte Informationen über Kriege, Konflikte, Verstöße gegen Menschenrechte und Diskriminierung zusammengetragen. Vieles liest sich wie eine Fortsetzung schon lange bekannter Missstände weltweit, die sich von Jahr zu Jahr nur in Details verändern.

Aus der langen Liste der Verstöße gegen die Menschenrechte weltweit sticht 2017 die Vertreibung von etwa 655 000 muslimischen Rohingya aus Myanmar nach Bangladesch heraus. Nachdem bewaffnete Rohingya im August mehrere Anschläge verübt hatten, gingen Armee und Polizei im Bundesstaat Rakhine mit äußerster Brutalität gegen die in Myanmar unterdrückte Minderheit vor. Tausende wurden getötet, Hunderte Dörfer niedergebrannt. Geflüchtete berichten von Folter und Vergewaltigungen.

Hervorzuheben ist außerdem die humanitäre Katastrophe in Jemen, wo mutmaßlich von Iran unterstützte Aufständische große Teile des Landes kontrollieren. Deutlich verschärft wurde die Lage für die Zivilbevölkerung, als eine Militärallianz unter Führung von Saudi-Arabien Hilfslieferungen blockierte.

AI wirft Iran und Saudi-Arabien überdies vor, brutal gegen Regimekritiker und Menschenrechtsaktivisten vorzugehen. Willkürliche Festnahmen, Folter, Hinrichtungen, grausamen Körperstrafen und Diskriminierung von Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung gehören genauso zum Alltag wie die Unterdrückung von Frauen.

Die Kämpfe im Irak und Syrien wurden erneut begleitet von Kriegsverbrechen aller Parteien. Dazu gehörte etwa die teils weitgehende Zerstörung von Städten wie Mossul im Irak und die Bombardierung von Ortschaften in Syrien, die zu unzähligen Opfern auch unter der Zivilbevölkerung führten. Dort und andernorts kam es immer wieder zu Folter und außergerichtlichen Hinrichtungen von Gefangenen.

Auch die Lage in der Türkei, in Russland, China, Ägypten oder Indien hat sich für Regimekritiker und Minderheiten weiter verschlechtert. In der Türkei wurden sogar zwei hochrangige Mitarbeiter von Amnesty International selbst verhaftet.

"Kaltherzige Abgebrühtheit" im Westen

Der Westen, wo die Bedeutung der Menschenrechte so häufig betont wird, wird im Zusammenhang mit diesen globalen Entwicklungen von Amnesty ebenfalls heftig kritisiert. Die Ereignisse in Myanmar etwa sind AI-Generalsekretär Shetty zufolge "ein weiterer Beweis für das katastrophale Versagen der internationalen Gemeinschaft, Entwicklungen Einhalt zu gebieten, die den Nährboden für massenhafte Gräueltaten bilden".

Statt angemessen auf solche Angriffe auf die Menschenrechte zu reagieren, würden manche Länder die Konflikte durch Waffenhandel noch anheizen. Und auf die vielen Menschen, die vor Zerstörung und Tod fliehen, würden die politisch Verantwortlichen der wohlhabenden Länder "nach wie vor mit einer Mischung aus Ausflüchten und kaltherziger Abgebrühtheit" reagieren. In den USA etwa mit Einreiseverboten für Menschen aus einigen muslimischen Ländern. Und auch die meisten europäischen Staats- und Regierungschefs, so Shetty, "schreckten bei ihren Bemühungen, Flüchtlinge von den Küsten Europas fernzuhalten, praktisch vor nichts zurück".

Wohin dies geführt hat, zeigt AI zufolge etwa die Lage in Libyen, wo die Sicherheitskräfte versuchen, Flüchtlinge an der Fahrt nach Europa zu hindern. Migranten, Flüchtlinge und Asylsuchende wurden dort Opfer schwerer und systematischer Menschenrechtsverletzungen durch Schleuser, aber auch durch Angehörige staatlicher Stellen. So gibt es Hinweise auf systematische Folter.

Deutschland in besonderer Verantwortung

Beeko zufolge ist gerade Deutschland aufgerufen, für eine Stärkung der internationalen Standards für Menschenrechte einzutreten - nicht nur aufgrund einer besonderen politischen und wirtschaftlichen Rolle, sondern auch aufgrund seiner Kandidatur als Mitglied des UN-Sicherheitsrats. "Die neue Bundesregierung kann eine deutlich aktivere Rolle einnehmen und zu verhindern helfen, dass die Welt zurück in Zeiten fällt, in denen nur das Recht des Stärkeren zählt", sagt Beeko.

Allerdings gebe es da auch innenpolitisch noch einiges zu tun. Wie in Frankreich, den Niederlanden oder Österreich hätten auch hier Politiker versucht, "soziale und wirtschaftliche Sorgen der Bevölkerung umzumünzen in Angst und Schuldzuweisungen, die sich vor allem gegen Migranten, Flüchtlinge und religiöse Minderheiten richteten". Noch immer werden Menschen nach Afghanistan abgeschoben, wo es - wie es der AI-Bericht einmal mehr zeigt - um die Menschenrechte nicht gut steht.

Auch der Plan von SPD, CDU und CSU, im Falle einer weiteren großen Koalition Länder wie Marokko und Tunesien zu sicheren Herkunftsländern zu erklären, stößt bei Menschenrechtsaktivisten auf Kritik. Es gibt Berichte über Folter und Misshandlungen von Gefangenen, willkürliche Festnahmen und unfaire Gerichtsprozesse. Auch werden in diesen Ländern noch immer Menschen wegen ihrer sexuellen Orientierung von der Justiz verfolgt.

AI-Generalsekretär Salil Shetty hält den Zeitpunkt für gekommen, "an dem wir uns fragen müssen, in welcher Art von Gesellschaft wir leben wollen". Auch wer es nicht so dramatisch sehen will: Mit dem Jubiläum der Erklärung der Allgemeinen Menschenrechte bietet das Jahr 2018 laut Shetty "eine gute Gelegenheit, uns erneut den Menschenrechten zu verpflichten".

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