Afrikanische Flüchtlinge auf Gran Canaria:Insel der Hoffnung

Um Armut und Perspektivlosigkeit in ihrer Heimat zu entkommen, haben Jungen wie Mikel, Henry und Ibrahim die gefährliche Seereise von Afrika zu den Kanaren gewagt. In Spanien bekommen sie eine Chance - weil sie minderjährig sind.

Marcel Burkhardt

Mikel hat mit 15 schon mehr erlebt als viele Europäer mit 50. "Er hat sich ganz allein durchgeschlagen bis hierher, quer durch halb Afrika", sagt der Lehrer und zeigt auf einen schüchtern lächelnden Ghanaer. Der Junge sitzt im Eck eines hellen, freundlichen Klassenraumes im größten Heim für minderjährige Einwanderer auf Gran Canaria. Mikel zupft verlegen an seinem T-Shirt, das den Schriftzug "boyfashion" trägt, und schaut zu Boden. Er hat doch nichts anders gemacht als die anderen hier. Ist von daheim weg, na und? Ist aus der Hafenstadt Accra quer durch Ghana, Burkina Faso, Mali und Senegal gereist, mit dem Bus und zu Fuß. Weiter durch Mauretanien, Westsahara und in Marokko auf ein Fischerboot mit dem Ziel Kanarische Inseln, Europa.

Jugendliche afrikanische Flüchtlinge auf Gran Canaria

"Es gibt ja nur diesen Weg" - jugendliche afrikanische Flüchtlinge auf Gran Canaria

(Foto: Marcel Burkhardt)

Acht Tage waren sie unterwegs, auf dem gefährlichsten Weg ins gelobte Land: übers Wasser. Mehr als 100 Menschen in einer Nussschale auf dem Atlantik. Mikel erinnert sich ungern an die Überfahrt. Es gab zu wenig Trinkwasser an Bord und zu wenig Essen. "Der Kapitän hat das Brot in die Menge geworfen, die Leute haben sich darum geprügelt." Manche waren so verzweifelt und irre vor Durst, dass sie Salzwasser getrunken haben. "Das hat sie umgebracht", sagt Mikel, der sein Ziel halb verdurstet erreicht hat.

Sein Leben riskieren, bevor es richtig begonnen hat? Mikel war 15, als er nach Europa kam, heute ist er 17. Mit seiner ruhigen, unaufgeregten Stimme sagt er, dass er die Überfahrt jederzeit wieder wagen würde - "es gibt ja nur diesen Weg". Er habe auch damals genau gewusst, worauf er sich einließ. "Daheim habe ich von früh bis spät geschuftet und es hat trotzdem vorn und hinten nicht gereicht. Nicht für die Familie, nicht für eine Ausbildung, das war kein Leben." Mikel wollte weg von der Armut und Perspektivlosigkeit in Ghana. "Ich dachte, in Europa kann ich schnell eine Menge Geld verdienen, meiner Mutter und meinen vier Schwestern helfen." Wie er die Reise bezahlt hat, darüber sagt der Junge nur so viel: "Freunde haben geholfen."

Mikel ist einer von fast 3000 jungen Afrikanern, die in den vergangenen vier Jahren auf den Kanaren gestrandet sind. Anders als in Griechenland, wo minderjährige Einwanderer hinter Gitter gesteckt werden, bekommen sie in Spanien ein sicheres Dach über dem Kopf und die Chance auf eine Zukunft in Europa. Bis zu ihrem 18. Geburtstag fallen sie unter das Jugendschutzgesetz.

Mit 50 weiteren Jungen lebt Mikel im Zentrum für minderjährige Einwanderer in Arinaga. Das Heim liegt in einem Industriegebiet, direkt neben Fabriken und Möbelhäusern, in der Einflugschneise des Flughafens. Über die nahe Autobahn rollen Busse in die Tourismuszentren Playa del Inglés und Maspalomas. Ein heißer, trockener Wind wirbelt Staub auf. Es gibt schönere Orte für Heranwachsende auf der Insel, aber Mikel nennt es lachend sein Zuhause. "Ich bin glücklich hier."

Wiederanfang bei null

Er wirkt leicht in diesem Augenblick, angekommen. Über seine Gefühle spricht er in fast perfektem Spanisch. "Die meisten Jungen lernen sehr schnell - du spürst richtig, dass sie Wissen wie ein Schwamm aufsaugen", sagt Javier Quintana, der sie mit Elan und Engelsgeduld unterrichtet. Den Jungen, die jetzt vor ihm sitzen, hat er in nur einem Jahr Spanisch beigebracht. "Dabei haben einige von ihnen bei null angefangen", sagt er. "Die haben in ihren Ländern nie eine Schule besucht."

Für diese Jungen hieß es zu Beginn ihrer Zeit in Spanien: lernen, einen Stift zu halten, zu schreiben, zu rechnen. Inzwischen ist das kein Thema mehr, im Erdkundeunterricht wird lebhaft auf Spanisch diskutiert. Als Quintana eine Landkarte aufzieht, um das spanische Provinzsystem zu erklären, ruft ein junger Marokkaner: "Und was ist mit Melilla?" Die spanische Exklave in Nordafrika ist ein mit Stacheldraht umzäunter Vorposten der Festung Europa. Wie kann das sein, fragen die Schüler ihren Lehrer, eine spanische Stadt in Nordafrika und die Afrikaner dürfen nicht rein? Quintanas Augen funkeln, ihn freut das Interesse. "Sie zeigen mir jeden Tag, dass sie vorankommen wollen", erzählt er später.

Aber was ist, wenn Zweifel und Schwermut den Jungen zu schaffen machen? Quintana schaut etwas verständnislos. "Dafür hätten wir einen Psychologen", sagt er schließlich. "Aber ganz ehrlich: Das Problem haben wir hier nicht. Die Jungen wollen keine Plauderstunden bei Psychologen, die wollen beschäftigt sein, ein Job bekommen. Und sie glauben an sich."

Zittern um einen Arbeitsvertrag

Die Träume der 17- und 18-Jährigen sind dabei alles andere als abgehoben: Mikel will Automechaniker werden, Henry sein Geld als Zimmermann verdienen, Ibrahim möchte als Bäcker arbeiten und Jabir als Zimmerjunge in einem Hotel. "Ich sage ihnen immer, hängt euch voll rein, dann könnt ihr fast alles schaffen", sagt der Heimleiter Gabriel Orihoela Solares.

Der 29-Jährige, ein Zwei-Meter-Mann, hat selbst einiges getan, um es seinen Schützlingen leichter zu machen. In den vergangenen drei Jahren hat er bei lokalen Handwerkern, Hotels und Restaurants Klinken geputzt. Sein Ziel: für die Jungen werben, ihnen Praktika und Lehrstellen verschaffen. Mit Erfolg. Inzwischen unterstützen 17 Betriebe das Projekt. Ibrahim beginnt in diesen Tagen seine Bäckerlehre, Jabir hat einen Jahresvertrag als Zimmerjunge in der Tasche. Ein Drittel der Jungen, die in diesem Jahr volljährig werden, sind bei einem Betrieb untergekommen. Sie können aufatmen.

Für die anderen heißt es weiterzittern. Denn nur wer eine feste Arbeit nachweisen kann, darf auch als Volljähriger sicher hierbleiben. Den anderen droht die Abschiebung. In der Wirtschaftskrise hat Spanien die Verfolgung von Menschen ohne gültige Papiere verschärft. Auf den jungen Einwanderern lastet eine doppelt schwere Bürde. Oft haben sich ihre Familien verschuldet, um Geld für die Reise eines Sohnes nach Europa aufzutreiben. Von den Jungen wird erwartet, was ihren Vätern nicht gelang: die Familien aus dem Elend zu holen.

Auf den Kanaren sind feste Jobs auch für spanische Jugendliche inzwischen wie ein Gewinn in der Lotterie. Rund 40 Prozent der jungen Canarios unter 25 Jahren haben keine Arbeit. Die Jungen in Arinaga kennen die Zahlen, lassen sich aber ihr Bild von einer goldenen Zukunft in Europa nicht zerstören. "Ich werde hier hart arbeiten und mein Leben machen", sagt Ibrahim. Hat er gar keine Zweifel? "Pfff", macht er. "Europa ist der reichste Kontinent der Erde, hier lässt sich das Geld viel leichter finden als daheim in Senegal."

Carmen Steinert-Cruz bewundert so viel Zuversicht. Die Jugendschutzbeauftragte der Kanaren macht in ihrem Büro im Zentrum der Inselhauptstadt Las Palmas ebenfalls einen energischen Eindruck - aber beim Gedanken an die Zukunft der Einwanderer friert ihr Lächeln kurz ein. "Die Jungen sind stark, ja, aber was da in der Krise auf sie zukommt - puh", sagt sie und schüttelt ihren blonden Lockenkopf. Sie sieht die Situation mit Sorge. In der Krise schaffen es nur die mit der besten Ausbildung. Aber der Staat muss 65 Milliarden Euro sparen, Förderprogramme für Jugendliche bleiben da nicht verschont.

Sie würden es wieder tun

"Wir haben auf den Kanaren noch vier Millionen Euro, um die Einwanderer zu integrieren - auch um ihnen zu helfen, wenn sie nicht gleich eine Arbeit finden. Aber vier Millionen Euro, das ist absolut nichts", sagt Steinert-Cruz. Sie wünscht sich mehr Hilfe von der Regierung in Madrid und endlich ein kluges Konzept aus Brüssel für die Integration von Einwanderern. "Klar, wir sind hier an der europäischen Außengrenze. Aber das, was bei uns, in Italien oder Griechenland geschieht, geht doch alle an - auch die Franzosen, Engländer und die Deutschen." Die Leute abschieben, zurück nach Afrika, das bringe gar nichts, ist sich Steinert-Cruz sicher. "Die große Mehrheit der Jungs würde die Reise sofort wieder antreten."

"Natürlich würden sie es wieder versuchen - daheim haben sie einfach keine Perspektive ", sagt der Senegalese Aly Thioune ein paar Häuserblöcke entfernt und wuschelt durch seine Rastalocken. Aly, der diplomierte Musiklehrer, 33 Jahre alt, hat selbst jahrelang als Tomatenpflücker in den Plantagen von Gran Canaria geschuftet, bevor er als Chauffeur und Küchenhilfe im Heim von Arinaga unterkam. Ein Vollzeitjob für 840 Euro im Monat. "Vielleicht habe ich von etwas anderem geträumt", sagt er. "Aber ich kann damit mein Essen, die Miete und das Auto bezahlen." Er ist glücklich. Und trotzdem versucht er auf seinen Besuchen in Senegal das Europabild der Jungen zu entzaubern. "Aber da hast du kaum eine Chance", sagt Thioune und nimmt einen Schluck seines bittersüßen Schwarztees mit Minze. "Afrika", sagt er fast flüsternd, "ist so reich und hat seinen Kindern noch immer so wenig zu bieten".

Abends sitzen Mikel, Ibrahim, Henry und die anderen manchmal mit Aly Thioune beisammen und besingen in Liedern ihre Sehnsucht nach einem besseren Afrika. Ihre Stimmen klingen wehmütig. Von Heimweh wollen sie aber nichts wissen. Mikel sagt etwas unwirsch "no, no", wedelt mit der Hand durch die Luft, als müsste er ein paar lästige Fliegen verscheuchen und blickt hoch zu einer Wanduhr, die mal die Zeit in Westafrika angezeigt hat. Heute zuckt ihr Zeiger nur noch schwach. Mikel lächelt, kramt in seiner Hosentasche nach einer Telefonkarte und geht. Zeit für einen Anruf in Accra.

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