Afghanistan: Stichwahl:In letzter Minute

Hamid Karsai akzeptiert unter dem denkbar schärfsten Druck doch noch die Stichwahl ums Präsidentenamt - und schenkt dem Westen etwas Zeit.

S. Kornelius

Es ist lange her, dass die Welt aus dem Mund des afghanischen Präsidenten ein Lob der Demokratie gehört hat oder eine positive Äußerung über die mühsamen Fortschritte auf dem Weg zu einem stabilen Staat. Hamid Karsai hatte sich über Monate hinweg begnügt mit simpler Ausländerschelte, er band die wichtigsten regionalen Machthaber und die zwielichtigsten Figuren aus den Zeiten des Bürgerkrieges in sein Wahlteam ein, und schließlich billigte er einen solch fabelhaften Wahlbetrug, dass kein Gutmeinender mehr dem einsamen Mann im Kabuler Präsidentenpalast seine Unterstützung garantieren konnte.

Karsai, dpa

Hamid Karsai akzeptiert unter dem denkbar schärfsten Druck doch noch die Stichwahl ums Präsidentenamt.

(Foto: Foto: dpa)

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Lange hat Hamid Karsai dies ignoriert - sei es aus Verblendung, aus Entrücktheit, aus Ehrgefühl oder Stammesdünkel. Dann aber, quasi in letzter Minute, unter dem denkbar schärfsten Druck der Amerikaner, der Briten, der Franzosen, der UN und auch der Opposition im eigenen Land beugte sich Karsai und beschritt die goldene Brücke, die man ihm gebaut hatte: Der Wahlbetrug in seinem Namen möge vergessen sein, wenn er denn nur einwillige in eine Stichwahl, an deren Ende mit ziemlicher Gewissheit erneut ein Präsident Karsai stehen wird.

Gesichtswahrende Maßnahme

Die Stichwahl als demokratische Scheinübung, als gesichtswahrende Maßnahme für all die Aufbauhelfer und Soldaten, die täglich ihr Leben riskieren, damit Afghanistan vielleicht doch zu einem stabilen Staat wird. Mit der Stichwahl haben sie einen triftigen Grund, ihren Aufenthalt zu verlängern. Ohne das Fünkchen demokratischer Glaubwürdigkeit wäre es nicht zu vermitteln gewesen, warum mehr als hunderttausend Ausländer in einem Land bleiben sollen, das nach einer kaum zu durchschauenden Gesetzmäßigkeit, aber immer unter hohem Blutzoll die Machtverteilung organisiert.

Karsais Anteil an der afghanischen Misere ist groß, aber man würde den Präsidenten und seine Möglichkeiten überschätzen, gäbe man ihm die alleinige Schuld am politischen Stillstand und der militärischen Perspektivlosigkeit. Karsai muss Korruption, schlechter Regierungsstil und mangelnde Kooperation angelastet werden, aber nicht weniger chaotisch handeln die Akteure aus dem Ausland - die UN, die Truppensteller, die USA als wichtigster Partner. Ihre Beiträge zum Aufbau sind nach wie vor unkoordiniert und mangelhaft finanziert. Vor allem aber fehlt es den vielen Helfern an einem gemeinsamen politischen Ziel.

Wann also ist genug geleistet für Afghanistan? Wann können die 67 000 Soldaten das Land verlassen? Karsai hat mit seiner Einwilligung für eine Stichwahl eine wichtige Antwort auf diese Fragen gegeben. Die nächste Regierung wird, wenn der zweite Wahlgang funktioniert, ein gutes Maß an Legitimation genießen. Wird sie mit vernünftigen Ministern besetzt und erliegt Karsai nicht ganz seiner im Wahlkampf betriebenen Klientel-Wirtschaft, dann kann man ihr mehr und mehr Verantwortung übertragen.

Schutz vor den Taliban und ein besseres Leben

Nachdem monatelang alle politische Energie durch den Wahlkampf aufgesaugt worden ist, gibt es nun aber auch keine Ausflüchte mehr - weder für die amerikanische noch für die neue deutsche Regierung, noch für alle anderen Nationen im Wiederbelebungseinsatz für das Land. Mit der Stichwahl-Entscheidung haben sie die letzte Chance erhalten, ihre Versprechen zu erfüllen: Schutz vor den Taliban und ein besseres Leben. Und mit der Stichwahl ist die Chance gekommen, ein letztes Mal ein glaubwürdiges und erfüllbares Ziel für den Einsatz zu definieren: Afghanistan selbst muss sich vor der Vereinnahmung durch ein islamistisches Kalifat schützen können, weil nur so Terror, Gewaltherrschaft und Staatszerfall verhindert werden.

Die positive Kraft aus der Stichwahl kann genutzt werden, um einen letzten Schub für mehr Truppen zu Stabilisierung und Ausbildung und für mehr Aufbauhelfer auszulösen. Eine andere Chance wird es nicht mehr geben. Karsai hat die Grenzen des Wohlwollens getestet.

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