Afghanistan:Abzug oder Rauswurf

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Das sowjetische Afghanistan-Debakel lehrt: Wer das Land verlässt, muss es ausbalancieren. Doch es gibt heute einen Unterschied zur Zeit der sowjetischen Besatzung.

Stefan Kornelius

Afghanistan spielte mindestens zweimal in der modernen Geschichte Schicksal in der großen Weltpolitik: einmal für die Briten, die mit ihren verlorenen Kriegen am Hindukusch das Ende ihrer imperialen Ambitionen erlebten; und einmal für die Russen, deren sowjetisches und vor allem sozialistisches Imperium mit der afghanischen Besatzung von 1979 bis 1989 zu kollabieren begann. In beiden Fällen endete eine imperiale Überdehnung.

Ein wichtiger Unterschied zur sowjetischen Besatzungszeit in Afghanistan: Die meisten Afghanen empfinden die heute stationierten Soldaten aus 43 Nationen nicht als Besatzer. (Foto: Foto: dpa)

Afghanistan dient also als geopolitischer Stolperstein an der Nahtstelle der Kulturen - der chinesischen, der persischen, der indischen und der slawischen -, der jede fremde Herrschaft zu Fall brachte.

Kein Widerstand gegen die Fremden

Diese historische Erfahrung ist nur bedingt brauchbar für die Abzugsdebatte, die US-Präsident Barack Obama in West Point angestoßen hat, und die nun in Deutschland aufgenommen wird. Einen gewichtigen Unterschied gibt es: Die meisten Afghanen empfinden die Soldaten und Helfer aus 43 Nationen, die heute stationiert sind, nicht als Besatzer.

Im afghanischen Bewusstsein haben sich Briten und Sowjets tief eingegraben als Feinde, die das zersplitterte Land mit seiner Unzahl von Ethnien und Religionen zu innerer Einheit zwangen. Heute aber gibt es keinen geschlossenen Widerstand gegen die Fremden. Einzig die Taliban bilden die Aufstandsbewegung, sie wollen die Herrschaft zurückerobern - gegen den Willen der Mehrzahl der Afghanen.

Zwar gibt es gerade unter Paschtunen ein traditionelles Misstrauen, ja eine offene Ablehnung gegenüber allem Fremden. Die ausländischen Truppen spüren das durchaus. Wenn diese Xenophobie nicht umschlagen soll in blanke Feindseligkeit, dann tut die internationale Gemeinschaft gut daran, über ein Abzugsszenario nachzudenken, das nicht in einem Fiasko endet wie weiland die britische oder die sowjetische Besatzung.

Ausbalancierung der afghanischen Machtverteilung

Die sowjetische Erfahrung ist besonders hilfreich, weil die Besatzung durch die Rote Armee ein abschreckendes Beispiel gibt für eine missratene Strategie. Sollten die Sowjets jemals die Hoffnung gehegt haben, Afghanistan kontrollieren zu können, dann haben sie auf die falschen Mittel gesetzt. Sie haben eine künstliche Zentralmacht gestärkt und maßlos Gewalt im Land angewandt.

Auf 2010 übertragen heißt das: Die Truppensteller müssen eine Idee entwickeln, wie sie die Machtverteilung in Afghanistan ausbalancieren, um den Kreislauf aus inneren Machtkämpfen (zwischen Stämmen und Ethnien) und den Interventionen von außen zu stoppen.

Weder Obama noch Präsident Hamid Karsai noch die deutschen Debatteure haben darauf eine Antwort gegeben. Liefern können sie am Ende nur die Afghanen selbst, die Interventionsmächte müssen bei der Suche helfen. Nur wenn die Machtpole in Afghanistan für einen stabilen Zeitraum ausgeglichen sind, können die 43 Nationen das Land guten Gewissens verlassen und sich einen schmachvollen Abzug ersparen, wie ihn Briten und Sowjets einst erleben mussten.

© SZ vom 29.12.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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