Ägypter zu Mursis Referendum:"Wir gehen in einen dunklen Tunnel"

Abstimmen oder nicht? Ab Samstag entscheidet Ägypten über den umstrittenen Verfassungsentwurf. Viele fürchten eine Islamisierung der Gesellschaft. Süddeutsche.de hat mit sechs Menschen aus Kairo über die Lage im Land gesprochen.

Protokolle: Sarah Sophie Ehrmann

Am Samstag sollen die Ägypter über ihre neue Verfassung abstimmen - doch die Gesellschaft ist gespalten wie selten zuvor. Während die regierenden Islamisten es als "nationale Pflicht" der Bürger betrachten, für den Verfassungsentwurf zu stimmen, rufen liberale und linke Parteien der Opposition ihre Anhänger zu einem "Nein" auf.

Der von Muslimbrüdern und radikalen Salafisten erarbeitete Verfassungsentwurf schwäche die Position der Frau, schütze Kinder nicht vor Ausbeutung, schränke die persönlichen Freiheiten ein und diskriminiere Minderheiten, so das Argument.

Süddeutsche.de hat mit drei Ägyptern und drei Ägypterinnen über ihre Ängste und Befürchtungen gesprochen - und über die Frage, ob sie zur Abstimmung gehen oder das Referendum boykottieren.

Mohamad Abo Teira, 32, Architekt, Kairo

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(Foto: privat)

Die vergangenen zwei Wochen habe ich komplett auf der Straße verbracht, nur zum Schlafen bin ich ab und an nach Hause gegangen. Wir Demonstranten harren entweder vor dem Präsidentenpalast aus oder sammeln uns auf dem Tahrir-Platz. Die Lager der Muslimbrüder sind an weniger symbolträchtigen Plätzen wie der Cairo University oder in Nasser City. Die Camps müssen getrennt voneinander liegen - denn treffen wir aufeinander, passieren schreckliche Dinge. So wie Mittwoch vor einer Woche, als am Ende neun Menschen getötet worden sind.

Wir haben immer wieder gesagt, dass die Revolution noch im Gange ist, auch wenn viele das nicht glauben wollten. Die Revolution verläuft immer noch relativ friedlich - wenn man den Ärger und den Zorn in den Gesichtern der Menschen sieht, die sich gegenüberstehen, ist es beinahe überraschend, dass bisher noch nichts in die Luft geflogen ist. Im Moment bin ich allerdings pessimistisch und fürchte, dass sich die Spannungen in blutigen Konflikten entladen werden. Hoffentlich täusche ich mich!

Ich habe alles versucht, zu verhindern, dass wir in den nächsten Tagen über das Referendum abstimmen müssen - doch nun werde ich abstimmen und zwar mit "Nein". Denn ich weiß, dass es immer Menschen gibt, die ihre Stimme abgeben werden. Die Muslimbrüder sind sehr straff organisiert, das haben die Wahlen gezeigt. Die Abstimmung in diesem Stadium zu boykottieren, brächte daher nichts. Wir müssen leider hinnehmen, dass unsere Teilnahme daran einem falschen Konzept Legitimität verschafft.

Die Polizei, die sich seit Beginn der Revolution komplett aus den Protesten herausgehalten hatte, ist nun auch wieder auf der Spielfläche und schützt den Präsidentenpalast. Das kommt uns verdächtig vor. Inzwischen passiert es auch immer öfter, dass Anhänger des alten Regimes versuchen, sich unserem Protest anzuschließen. Sie hassen uns eigentlich - doch die Muslimbrüder hassen sie eben noch mehr. Wenn wir so jemanden in unserer Gruppe entdecken, schmeißen wir ihn sofort raus.

"Die Situation ist chaotisch"

Amal Mattar, 37, Akademische Koordinatorin für Forschungsethik in Nahost (Mereti) in Kairo

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Momentan ist die Situation in Ägypten absolut chaotisch. Wir sind alle sehr angespannt, grade wenn wir zusehen müssen, wie Ägypter auf den Straßen von anderen Ägyptern getötet werden. Vergangene Woche habe ich mit vielen anderen Menschen gemeinsam demonstriert - neben mir Frauen und Männer, alt und jung, mit Kopftuch und ohne. Unser dreistündiger Marsch zum Präsidentenpalast wurde nur dadurch gestört, dass wir einmal mit Steinen beworfen wurden.

Hoffentlich können die Massenproteste Mursi umstimmen und ihm zeigen, dass das Volk seine faulige Verfassung nicht möchte. Denn der Prozess, in dem die Verfassung entstanden ist und verabschiedet wurde - nämlich nicht im Konsens, sondern als Mehrheitsentscheid - ist absolut inakzeptabel. Ein Viertel der Beteiligten hat das Komitee aus Protest verlassen, darunter vor allem Kopten, Nubier und Beduinen von der Sinai-Halbinsel. Aus diesen Gründen werde ich wohl nicht beim Verfassungsreferendum abstimmen - das würde ihm eine Legitimität zusprechen, die es nicht besitzt.

Präsident Mursi und die Muslimbrüder ignorieren die Opposition und die Forderungen eines großen Teils des Volkes. Die Muslimbrüder haben bei allem ihre Finger mit im Spiel. Dass Mursi ständig zögert und hin- und herlaviert, schwächt ihn und macht ihn abhängig von anderen Entscheidern. Am Montag hat er ein Gesetz zu höheren Steuern verabschiedet - um es ein paar Stunden später wieder zurückzuziehen.

Wenn es wahr ist, dass Mursi einzig den Aufträgen der Muslimbrüder folgt, hat er in den Augen vieler seine Legitimität verloren - denn er schaut tatenlos zu, wie seine Unterstützer friedliche Sit-ins angreifen. Er hat alle seine Versprechen gebrochen: in Ägypten gibt es keine geteilte Macht, keine Meinungsfreiheit, kein funktionierendes Verfassungskomitee und keinen Verfassungskonsens.

"Wir sind dabei, alles zu verlieren"

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(Foto: privat)

Hatem Ezz, 29, Beamter, Kairo

Meine Hoffnungen und Erwartungen nach der Revolution des 25. Januar sind dem Gefühl gewichen, dass ich mich in meinem eigenen Land unwohl fühle und mich sorge. Zuvor, als "wir" aufeinanderprallten und "uns" gegen Mubarak verschworen, war das Ziel für uns alle glasklar: Das dumme, repressive Regime loszuwerden. Jetzt ist mein Volk in zwei rivalisierende Lager aufgespalten und wir sind dabei, alles zu verlieren.

Ich bin sehr frustriert. Ich glaube, ich habe aufgegeben. Zwar protestiere ich noch, aber nicht mehr wie zuvor. Von der Verfassung bin ich enttäuscht, sie erfüllt keine meiner Hoffnungen, daher werde ich im Referendum mit "Nein" stimmen. Vor einigen Jahren wollte ich nach Kanada auswandern, während der Revolution war dieser Wunsch abgeschwächt, weil ich dachte, es würde alles gut werden. Doch inzwischen ist er stark wir nie.

Ägypten ist eines der Länder, die entweder durchstarten oder zusammenbrechen. Ich glaube, dass es keinen anderen Ausweg aus der momentanen Situation geben kann, als dass wir uns alle zusammenschließen und weise, besonnene, gebildete Menschen wie Mohammed el-Baradei an die Macht bringen. Diese Tage sind härter als unter Mubarak.

"Wir müssen Ägypten eine Chance geben"

Amaal Khalid, 16, Schülerin der elften Klasse, Kairo

Manchmal kann ich nicht zur Schule gehen, weil die Straßen wegen der Proteste verstopft sind. Manche Klassenkameraden müssen tagelang zu Hause bleiben, weil ihre Eltern befürchten, dass ihnen auf dem Schulweg etwas zustoßen könnte. Manchmal werden wir aber auch schon früher nach Hause geschickt, weil Demonstrationen angekündigt sind. Meine Bildung leidet unter den Unruhen.

Ich würde nicht sagen, dass ich mich unsicher fühle, aber ich bin vorsichtiger, wenn ich irgendwo hingehe. Das ist bei meinen Eltern genauso. Ich hoffe, dass sich die Situation auf die eine oder andere Art entschärft. Egal wie es dann sein wird: Wir müssen Ägypten eine Chance geben und sehen, ob es funktionieren kann.

"Das ist gegen die Religion"

Mohamed Abdel Aziz

Mohamed Abdel Aziz Mohamed Abdel Aziz

(Foto: privat)

Mohamed Abdel Aziz, 32, Stadtplaner und Masterstudent für ganzheitliche Stadtplanung und nachhaltige Entwicklung (IUSD), Kairo

Meine Laune ist unerträglich schlecht in letzter Zeit, denn ich weiß nicht, wie Ägyptens Zukunft aussehen soll. Was wird, wenn das Regime tun und lassen kann, was es will? Haben wir dann wieder eine autoritäre Partei wie einst Mubaraks "National Democratic Party", nur unter anderem Namen? Es ist so unvorstellbar, dass Ägypter ihre Landsleute bekämpfen, es ist gegen die Moral, es ist gegen die Religion. Was gerade passiert, lässt den Islam in einem schlechten Licht dastehen, denn eigentlich ist es die Religion der Vergebung, der guten Gesinnung, ist Frieden, Mäßigung und Gerechtigkeit.

Dass das Referendum jetzt stattfinden soll, ist eine Missachtung der Meinung der Protestierenden. Aber wenn es keine andere Option gibt, werde ich wählen, obwohl ich bezweifle, dass der Prozess transparent sein wird. Manchmal schreibe ich über meine Bedenken auf Facebook, manchmal demonstriere ich. Im Moment bin ich zu beschäftigt mit meinem Studium, aber für die kommenden Wochen habe ich es mir fest vorgenommen.

"Mit den Muslimbrüdern gehen wir in einen dunklen Tunnel"

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(Foto: privat)

Noha El-Ansari, 39, Regisseurin und Sachbearbeiterin im Goethe Institut Kairo

Vor der Revolution hatte ich überhaupt nichts mit Politik am Hut, höchstens mal mit meiner Familie diskutiert. Nach dem Sturz von Mubarak wurden Leute wie ich als "Sofapartei" bezeichnet, egal ob wir für oder gegen die Demonstrierenden waren. Seit die Muslimbrüder regieren, haben wir alle große Angst - vor allem wir Frauen und die Ägypter, die nicht zu den Muslimbrüdern gehören.

Wir können uns nicht vorstellen, wie unsere Zukunft aussehen wird. Wir machen uns Sorgen um unsere Freiheit: um die Freiheit, zu arbeiten und um unsere persönliche Freiheit. Ich trage wie viele Mädchen ein Kopftuch zu Hosen und Anzügen, ich gehöre dem moderaten Islam an - dennoch habe ich Angst und weiß nicht, was nun kommen wird.

Seit das ökonomische System bröckelt, hat sich die "Sofapartei" aufgerappelt und geht demonstrieren, auch ich. Die Zukunft ist verschwommen und wir wissen nicht, wohin der Weg führt. Aber eines weiß ich: Wenn die Muslimbrüder an der Macht bleiben, gehen wir in einen dunklen Tunnel.

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