Abstimmung in der Türkei:"Nehmt sie und richtet über sie"

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Das Parlament in Ankara hebt in einer hoch umstrittenen Entscheidung die Immunität von Abgeordneten auf. Den Parlamentariern der pro-kurdischen HDP drohen nun Festnahmen und Untersuchungshaft.

Von Luisa Seeling, München

Das türkische Parlament hat mit Zweidrittelmehrheit für die Aufhebung der Immunität von 138 Abgeordneten gestimmt. Damit ist der Weg frei für Ermittlungen gegen mehr als ein Viertel der Nationalversammlung. Für das Vorhaben der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP votierten am Freitag 376 der 550 Abgeordnete, berichteten türkische Medien. Mit "Ja" hatten nicht nur AKP-Abgeordnete, sondern auch mehrere Vertreter der säkular-kemalistischen CHP und der nationalistischen MHP gestimmt.

Damit ist die Regelung ohne den Umweg über ein Referendum angenommen. Wäre nur eine 60-Prozent-Mehrheit zustande gekommen, also 330 Stimmen, hätte der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan eine Volksabstimmung ansetzen können. Möglich ist die Aufhebung der Immunität durch eine befristete Verfassungsänderung. Aus Artikel 83 wird ein Satz ausgesetzt, in dem es heißt: "Ein Abgeordneter, der vor oder nach der Wahl eine Straftat begangen haben soll, darf nicht festgenommen, verhört, verhaftet oder vor Gericht gestellt werden, wenn die Versammlung nicht anderweitig entscheidet."

Vorangetrieben hatte das Vorhaben die AKP. Es richtet sich vor allem gegen die pro-kurdische HDP. Nicht nur sind 50 von 59 Mitgliedern der HDP-Fraktion vom Verlust der Immunität betroffen, die gegen sie erhobenen Anschuldigungen wiegen auch besonders schwer. Es handelt sich insbesondere um den Vorwurf der Terrorunterstützung oder der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung.

Den Parlamentariern der pro-kurdischen HDP drohen nun Festnahmen

Erdoğan wirft der Partei schon lange vor, der "verlängerte Arm" der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK zu sein. Vor der Abstimmung rief er ausdrücklich dazu auf, die Immunität der HDP-Abgeordneten aufzuheben. Anschließend äußerte er sich zufrieden. "Mein Volk möchte im Parlament keine Abgeordneten sehen, die Verbrechen begangen haben. Vor allem will es jene nicht im Parlament sehen, die von der separatistischen Terrororganisation (PKK) unterstützt werden", sagte er. Die Gerichte forderte er auf: "Nehmt sie und richtet über sie. Sie sollen den Preis, welchen auch immer, bezahlen."

Den Abgeordneten der HDP drohen nun Festnahmen und Untersuchungshaft. Einer der beiden Co-Vorsitzenden der Partei, Selahattin Demirtaş, warnte, der Schritt werde die Demokratie lähmen und wohl weitere Gewalt auslösen. Die deutsch-türkische HDP-Abgeordnete Feleknas Uca sagte der SZ, der Beschluss richte sich gegen sechs Millionen HDP-Wähler. "Wir rechnen nach der Rede Erdoğans heute mit allem, natürlich können wir auch festgenommen werden."

Die Aufhebung der Immunität werde zu den Themen gehören, die Bundeskanzlerin Angela Merkel bei einem Treffen mit Staatspräsident Erdoğan am Montag in Istanbul ansprechen werde, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert am Freitag in Berlin. Er sprach von einer "zunehmenden innenpolitischen Polarisierung" in der Türkei, welche die Bundesregierung "mit Sorge" sehe. Innenminister Thomas de Maizière (CDU) sieht die Beziehungen zur Türkei durch die umstrittene Abstimmung belastet. Eine "innenpolitische Entwicklung dieser Dimension wirft mindestens einen Schatten auf die Beziehungen", sagte er am Freitag in Brüssel. Darüber müsse offen mit Ankara gesprochen werden. "Wir wollen, dass dieser Schatten wieder verschwindet."

© SZ vom 21.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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