Guantanamo-Enthüllung:Schlaglicht auf Bushs Schattenknast

Im US-Militärgefängnis Guantanamo herrschte ein Willkürsystem: Unschuldige wurden eingesperrt, Misshandlungen und psychische Probleme in Kauf genommen. Dies zeigen mehr als 700 Geheimakten, die jetzt durch Wikileaks bekannt geworden sind. Zugleich erfährt die Welt Details über 14 prominente Terroristen - und Bin Ladens Flucht nach 9/11.

der Überblick

Agenten des US-Geheimdienstes CIA nannten Guantanamo Bay gern "Strawberry Fields". Eine Anspielung an den bekannten Beatles-Song - denn die Insassen des US-Militärlagers, so der zynische Scherz, würden dort "forever" festgehalten. Bis ans Ende der Zeit.

Guantanamo-Enthüllung: Das umstrittene Militärgefängnis Guantanamo Bay: Offenbar ließ die US-Regierung unter Bush dort jahrelang Unschuldige einsperren.

Das umstrittene Militärgefängnis Guantanamo Bay: Offenbar ließ die US-Regierung unter Bush dort jahrelang Unschuldige einsperren.

(Foto: AP)

Wie nah sie damit an der Wahrheit lagen, ist nun durch eine neue spektakuläre Enthüllung ersichtlich, die auf die Internetplattform Wikileaks zurückgeht. Die mehr als 700 bekannt gewordenen Dokumente sind als geheim, wohlgemerkt nicht streng geheim klassifiziert, und tragen den Zusatz "NonNoforn" ("Not releasable to foreign nationals") - nicht an Ausländer weitergeben. In ihnen wird auf Tausenden Seiten beschrieben, wie das Militärgefängnis funktioniert - und dass viele Gefangene zwar nicht "forever" interniert waren, aber doch viel länger, als angesichts der Vorwürfe gegen sie angemessen war.

Der Grundtenor der in der vergangenen Nacht veröffentlichten Dokumente: Die US-Regierung verließ sich unter dem damaligen Präsidenten George W. Bush in ihrem "Krieg gegen den Terrorismus" häufig auf Spekulationen; sie ließ jahrelang Unschuldige einsperren; selbst Freilassungen waren häufig eine Frage von Willkür. Zu diesem Schluss kommen renommierte Medien wie der britische Guardian und die New York Times, die die Dokumente analysiert haben.

Die Unterlagen stammen mutmaßlich aus dem gleichen Datenbestand, den laut US-Ermittlern der Soldat Bradley Manning Wikileaks zugespielt hat und der schon die Botschafts-, Irak- und Afghanistan-Protokolle umfasste. Die Dokumente datieren zwischen Februar 2002 und Januar 2009 - und enthalten einige Erkenntnisse, die noch Debatten und Kritik an der US-Regierung provozieren könnten.

Die zentralen Inhalte der Guantanamo-Protokolle - der Überblick:

█ Ein Großteil der Insassen galt nicht als gefährlich

Der Daily Telegraph berichtet nach Auswertung der Dokumente, dass den Unterlagen zufolge nur 220 der insgesamt 779 Guantanamo-Insassen als gefährliche Extremisten galten. Etwa 380 Häftlinge wurden demnach als "Fußsoldaten" niedrigeren Ranges eingestuft, die zum Beispiel den radikalislamischen Taliban nahestanden.

Bei mindestens 150 Häftlingen jedoch handelte es sich den Dokumenten zufolge um unschuldige Afghanen und Pakistaner, darunter Bauern und Fahrer. Sie wurden teilweise jahrelang aufgrund von Fehlern bei der Feststellung ihrer Identität oder weil sie schlicht zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen seien in Guantanamo festgehalten, heißt es im Telegraph.

█ Fast hundert Gefangene krank und depressiv

Der Guardian berichtet, dass etwa 100 Gefangene in den Akten als depressiv beschrieben werden oder als unter psychotischen Krankheiten leidend. Hungerstreiks ob der inhumanen Haftbedingungen waren ebenso verbreitet wie Selbstmordversuche. In den Akten sind auch Drohungen einiger Inhaftierter vermerkt, nach ihrer Freilassung US-Soldaten umzubringen oder Selbstmordanschläge zu verüben.

Einteilung in Risikoklassen

Die Dokumente geben auch Auskunft darüber, welchen Gefangenen die USA besondere Bedeutung zumessen. Den einzelnen Häftlingen werden die Risikoklassen "high", "medium" oder "low" zugeteilt. Als hohes Risiko für die Sicherheit der USA wird beispielsweise der Al-Qaida-Chefplaner Khalid Scheich Mohammed eingestuft, der in Verhören erklärt hatte, dass die Terrororganisation an weiteren Anschlägen im Stile des 11. September arbeite.

Die 14 wichtigsten Gefangenen

Die Akten zeichnen auch den Lebensweg der 14 "high value detainees" an, Guantanamo-Gefangene aus dem engsten Al-Qaida-Führungszirkel. Journalisten der Washington Post haben anhand der Dokumente rekonstruiert, wo sich die Spitze der Terrororganisation zum Zeitpunkt der Anschläge vom 11. September aufhielt. Demnach befand sich eine Gruppe hoher Mitglieder um Khalid Scheich Mohammed zu dem Zeitpunkt in Karatschi, Pakistan. Schon am nächsten Tag brachen die Männer getrennt nach Afghanistan auf.

Auch der Weg von Osama Bin Laden nach dem 11. September lässt sich über die Akten nachvollziehen: Am 15. September 2011 besuchte der meistgesuchte Terrorist der Welt ein Gästehaus in der afghanischen Provinz Kandahar, in den folgenden Wochen soll er per Auto durch das Land gereist sein, um unter anderem den Kämpfern Instruktionen zu geben. Offenbar gab Bin Laden aus Angst vor einer Verhaftung damals auch die Führung von al-Qaida an die Taliban ab. Bei den Reisen soll ihn auch sein Stellvertreter Aiman al-Zawahiri begleitet haben.

Nach verschiedenen Stationen, unter anderem in der afghanischen Hauptstadt Kabul, erreichten die beiden laut Zeugenaussagen Ende November die Bergfestung Tora-Bora. Diese sollen Bin Laden und sein Stellvertreter Mitte Dezember verlassen haben - offenbar war der Al-Qaida-Chef zu diesem Zeitpunkt so abgebrannt, dass er sich 7000 Dollar leihen musste. Nach dem Aufbruch von Tora-Bora verliert sich ihre Spur.

Al-Qaida soll "atomaren Höllensturm" geplant haben

Das Terrornetzwerk al-Qaida wollte womöglich weitere Ziele nach dem Muster der Anschläge des 11. September 2001 angreifen - und drohte angeblich mit der Zündung einer radioaktiven Bombe, falls Osama bin Laden gefasst wird. Das soll der Chefplaner des Netzwerks, Khalid Scheich Mohammed, in US-Verhören enthüllt haben, bei denen Foltermethoden wie Waterboarding zum Einsatz gekommen waren.

Demnach sollte ein in Europa versteckter Sprengsatz einen "atomaren Höllensturm" entfachen, für den Fall, dass bin Laden festgenommen werden. Ob es sich um eine sogenannte schmutzige Bombe mit eingestreuten radioaktiven Materialien handeln sollte oder um eine echte Atombombe, geht aus den Berichten nicht hervor.

Londoner Flughafen Heathrow im Visier der Terroristen

Den Protokollen zufolge bereiteten die Terroristen außerdem Attentate nach Art von 9/11 vor. Die Pläne dafür seien wesentlich weiter gediehen als bislang bekannt, schreibt der Spiegel. Der Londoner Flughafen Heathrow sei Khalid Scheich Mohammed zufolge als Ziel ausgewählt worden. Er habe in den Verhören angegeben, 2002 schon zwei Zellen gebildet zu haben, die den Anschlag vorbereiten sollten. In Großbritannien lebende Terroristen sollten demnach in Kenia lernen, ein Flugzeug zu steuern. Eine Gruppe sollte dann ein Flugzeug in Heathrow entführen, es nach dem Start wenden und auf das Flughafenterminal stürzen lassen.

Anschläge auf weitere Gebäude und Flughäfen in den USA seien erwogen worden. Das Magazin zitiert den Terrorplaner mit der Aussage in den Protokollen, Ende 2001 die Anweisung gegeben zu haben, außerdem das "höchste Gebäude Kaliforniens" mittels entführter Flugzeuge anzugreifen. Auch die Brooklyn Bridge, eines der Wahrzeichen New Yorks, habe zerstört werden sollen.

█ Viel zu nutzlosen Befragungen - wenig zu Misshandlungen

Die Dokumente bestätigen, dass es gang und gäbe war, auch offensichtlich Unschuldige immer wieder über Stunden zu verhören, um an mögliche Informationen zu gelangen. Die New York Times berichtet, einzelne Häftlinge hätten sich den Dokumenten zufolge einen Vorteil verschaffen können, wenn sie Mitgefangene angeschwärzt und sich zum Beispiel plötzlich daran erinnert hätten, sie in einem Terrorcamp gesehen zu haben.

Die Akten dokumentieren Informationen aus Befragungen der Gefangenen - geben aber kaum Hinweise auf die Verhörpraktiken, unter denen die Informationen gewonnen wurden. Der Einsatz von Techniken wie Schlafentzug, Stehen in unangenehmen Positionen oder die Wasserfolter (Waterboarding) sind inzwischen jedoch durch Medienenthüllungen ausführlich dokumentiert.

█ Rücksichtsloser Umgang mit Unschuldigen

In den Akten finden sich den ersten Analysen zufolge viele Beispiele für die Praxis, Unschuldige über Jahre hinweg in Guantanamo einzusperren.

Ein Beispiel ist die Verhaftung eines Afghanen durch die Sicherheitskräfte des Landes im Jahr 2003 - als eine Bombe am Straßenrand explodierte, befand er sich bloß in der Nähe. Er beteuerte, ein Schäfer zu sein, und auch Sicherheitsanalysten des CIA attestierten ihm Unkenntnis über "simple militärische und politische Konzepte". Trotzdem wurde er als feindlicher Kämpfer eingestuft. Und erst 2006 wieder freigelassen.

Ein anderer Mann wurde nach Guantanamo gebracht, weil er zufällig Mullah in Kandahar war - dies habe ihm "eine Position mit besonderem Wissen über die Taliban gebracht", steht in den Akten.

Der jüngste Insasse war ein Afghane, der mit 14 in das Gefängnis kam, weil er "mögliches Wissen über lokale Talibanführer" besitzen konnte, steht in den Akten.

Ein Reporter des arabischen Nachrichtensenders al-Dschasira wurde sechs Jahre lang festgehalten: Er sollte unter anderem Insiderwissen aus der Fernsehstation verraten, zum Beispiel, wie sie an Videos von Osama Bin Laden gekommen war.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie die falsche Armbanduhr Menschen zu Terrorverdächtigen machen konnte.

Willkür auch bei der Freilassung

█ USA misstrauen Pakistans Geheimdienst massiv

File picture shows a Guantanamo detainee running inside an exercise area at the detention facility at Guantanamo Bay U.S. Naval Base

Guantanamo-Häftling auf dem Lagerplatz: Morddrohungen und Selbstmordversuche.

(Foto: REUTERS)

Diplomatische Folgen könnte ein Dokument haben, dem zufolge die USA den pakistanischen Geheimdienst ISI als Terrororganisation wie al-Qaida einstufen. Verbindungen zum ISI würden terroristische Rebellenaktivität signalisieren, zitiert der Guardian aus dem Schriftsatz.

Das Misstrauen der USA gegenüber dem ISI ist zwar bekannt, wird aber offiziell immer wieder dementiert. Der Westen macht den Geheimdienst unter anderem dafür verantwortlich, dass die Taliban im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet Fuß fassen konnten.

█ Mehr Vermutungen als sichere Beweise

Schon die Wortwahl in den Akten ist verräterisch. Die New York Times hat gezählt, dass in den 704 Dokumenten das Wort "möglicherweise" 387-mal verwendet wird und 188-mal "unbekannt". In Guantanamo ging es offenbar mehr um Vermutungen und Indizien als um sichere Erkenntnisse, die aktenkundigen Vorwürfe gegen Gefangene basieren häufig auf Vermutungen und dubiosen Zeugenaussagen.

█ Wilkürlicher Katalog von Terroristen-Indizien

In dem Wikileaks-Dossier befindet sich ein 17-seitiges Dokument, mit dessen Hilfe US-Vertreter verdächtiges Verhalten identifzieren sollten. Die in der Akte genannten Indizien wirken allerdings teilweise willkürlich. So galt als Hinweis auf Mitgliedschaft in einer Terrororganisation der Besuch bestimmter Moscheen, aber auch der Besitz einer Casio-Armbanduhr, die al-Qaida angeblich Rekruten in Afghanistan geschenkt haben soll. Das Modell ist weltweit in jedem normalen Uhrenladen erhältlich. Ein weiteres Indiz, das der Spiegel nennt: Der Besitz von 100-Dollar-Scheinen, die angeblich die Führung von al-Qaida verteilt habe, um den Kämpfern der Organisation die Flucht aus Afghanistan zu ermöglichen.

Das Dokument sollte US-Ermittlern auch bei der Entscheidung helfen, ob Gefangene entlassen oder festgehalten werden sollen. Eine Richtlinie, um Al-Qaida-Helfer zu erkennen, lautet demnach: "Eine Reise nach Afghanistan ohne Grund ist nach dem 11. September höchstwahrscheinlich eine totale Erfindung, um die wahre Absicht zu verschleiern, Osama Bin Laden über direkte Kampfhandlungen gegen US-Truppen zu unterstützen." Eine weitere Al-Qaida-Widerstandstaktik sei es, "die Zusammenarbeit zu verweigern."

Wer also die Aussage verweigerte, machte sich zwangsläufig verdächtig.

Guantanamo-Häftlingen sollten Elektrochips implantiert werden

Die Wikileaks-Dokumente offenbaren Amerikas Furcht, entlassene Guantanamo-Häftlinge nicht wirksam überwachen zu können. Wie der Spiegel unter Berufung auf eine US-Geheimdepesche berichtet, hatte Saudi-Arabiens König Abdullah Bin Abd al-Asis dazu einen kreativen Vorschlag: Man solle den Häftlingen doch einfach Elektrochipfs einpflanzen, der Informationen über sie enthalte. Das werde bei Pferden oder Falken schließlich auch so gemacht, argumentierte der König, der als Liebhaber dieser Tiere bekannt ist.

Der Terrorberater des US-Präsidenten Barack Obama, John Brennan, habe den Vorschlag bei einem Treffen in Riad am 15. März 2009 zur Kenntnis genommen, heißt es. Von der Idee des Königs sei er jedoch nicht überzeugt gewesen: "Pferde haben keine guten Anwälte", soll er Abdullah entgegnet haben. Ein solches Vorgehen stieße in den USA wohl auf juristische Hürden.

█ Willkür bei der Freilassung

In ihrer Analyse der Dokumente nennt die New York Times das Entlassungsverfahren in Guantanamo eine "Freilassungs-Lotterie". So seien wegen der guten Beziehungen zwischen den USA und Saudi-Arabien Staatsbürger des Königreiches selbst dann freigekommen, wenn sie als besonders gefährlich eingeschätzt wurden. Auch der Deutsche Murat Kurnaz wurde in die höchste Gefahrenkategorie eingestuft - kam aber wegen diplomatischen Drucks der Bundesregierung und der Türkei frei. Insgesamt sollen mehr als 160 Häftlinge entlassen worden sein, obwohl sie nach Aktenlage als "großes Risiko für die USA" identifiziert worden waren.

Gefangene aus dem Jemen wurden dagegen offenbar weiter festgehalten, auch wenn die Aktenlage ihre Unschuld nahelegte. Grund: Die unsichere politische Situation im Land. Allerdings nennt die New York Times auch Beispiele, in denen die Ermittler ihre Entscheidung revidierten und Häftlinge aufgrund neuer Einschätzungen freiließen.

Derzeit sitzen noch mehr als 170 Gefangene in Guantanamo ein, obwohl US-Präsident Barack Obama noch im Wahlkampf die Schließung des Militärlagers angekündigt hatte. 47 der Inhaftierten sind nach Einschätzung der Ermittler zu gefährlich, um sie freizulassen - doch den USA fehlen Beweise, um ein Verfahren vor einem Militärtribunal zu eröffnen.

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