Vor der Verhandlung im Bundesverfassungsgericht:Wie das Wahlrecht das Ergebnis beeinflusst

Welches Wahlverfahren ist gerecht? Am Dienstag verhandelt das Verfassungsgericht über Klagen von SPD, Grünen und Tausenden Bürgern. Der Bundestag sähe völlig anders aus, wenn nach Regeln gewählt würde, die in anderen Ländern gelten.

Claudia Henzler

An diesem Dienstag verhandelt das Bundesverfassungsgericht über das jüngst reformierte Wahlrecht. 2008 hatte Karlsruhe dem Gesetzgeber den Auftrag gegeben, das Wahlgesetz zu überarbeiten, um einen ungewollten Effekt abzuschaffen, das "negative Stimmgewicht". Dabei handelt sich um einen Mechanismus, der dazu führt, dass man einer Partei schadet, indem man sie wählt.

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Die Richter zeigten damals drei denkbare Wege auf - auch die Abschaffung der Überhangmandate. Doch Union und FDP wählten einen anderen Weg, weshalb unter anderem die Opposition Beschwerde einlegte.

Die Karlsruher Richter hatten in ihrem Urteil 2008 auch signalisiert, dass sie sich einen Systemwechsel vorstellen können; das wäre eine Abkehr von der personalisierten Verhältniswahl. Es ist jedoch nicht der erste Vorstoß, das Wahlrecht grundsätzlich zu ändern. So diskutierte schon die Große Koalition in den sechziger Jahren über die Einführung eines Mehrheitswahlrechts nach britischem Vorbild. Wie würde der Bundestag aussehen, wenn 2009 nach einem anderen System gewählt worden wäre? Das zeigen die folgenden Modellrechnungen von Wahlrecht.de für die SZ.

1. Bundestagswahl 2009

Gewählt wurde mit einer Kombination aus Verhältnis- und Mehrheitswahl: Mit der Zweitstimme wurde die Landesliste einer Partei gewählt. Alle 598 Mandate wurden nach ihren bundesweiten Zweitstimmenzahlen auf die Parteien und ihre 16 Landeslisten verteilt. Mit der Erststimme wählten die Bürger nach relativer Mehrheitswahl einen Direktkandidaten ihres Wahlkreises. Erst- und Zweitstimmenergebnisse wurden verrechnet: Für jedes Direktmandat in einem Bundesland wurde der Partei dort ein Listenmandat abgezogen. Weil CDU und CSU in einigen Bundesländern mehr Direktmandate gewannen, als ihnen Mandate nach ihren Zeitstimmen zustanden, entstanden 24 Überhangmandate.

Wie in anderen Ländern gewählt wird

2. Vorbild Großbritannien: Mehrheitswahlrecht

Neue Sitzordnung im Parlament

Wenn sich die Mehrheiten im Parlament ändern, muss die Sitzordnung angepasst werden: Nach der letzten Bundestagswahl montierten Arbeiter im Plenarsaal im Bundestag neue Stühle.

(Foto: ddp)

Alle 598 Sitze im deutschen Bundestag werden in diesem Modell an Direktkandidaten in 598 Wahlkreisen vergeben. Jeder Wähler hat nur eine Stimme, gewählt ist bei der relativen Mehrheitswahl der Kandidat, der die meisten Stimmen erhalten hat. Weil der siegreiche Kandidat keine 50 Prozent erreichen muss und die Stimmen für seine Gegenkandidaten bei der Zusammensetzung des Parlaments keine Rolle spielen, spricht man dabei auch von einem "The winner takes it all"-System. Dieses Wahlverfahren gibt es vor allem im angelsächsischen Raum (Großbritannien, USA, Kanada). In der Praxis würde die Bundesrepublik für eine reine Mehrheitswahl in so viele Wahlkreise eingeteilt, wie Abgeordnete zu wählen sind. Um das Ergebnis der Bundestagswahl 2009 umzurechnen, muss man sich auf die vorhandenen Erststimmen stützen: Wer gewann die Direktwahl in den 299 Wahlkreisen? Dieses Ergebnis wurde für die Modellrechnung verdoppelt, um auf 598 Sitze zu kommen.

3. Vorbild Niederlande: Reine Verhältniswahl

Bei diesem Verfahren werden Parteien, beziehungsweise deren Kandidatenlisten gewählt. Die 598 Sitze im Bundestag werden im Verhältnis der abgegebenen Stimmen vergeben: Eine Partei, die bei Parlamentswahlen zehn Prozent der Stimmen erhält, bekommt auch zehn Prozent der Parlamentssitze. Nach diesem Verfahren wird in den Niederlande abgestimmt. Dort gilt nur eine Sperrklausel von 0,67 Prozent, in der Zweiten Kammer sind derzeit zehn Parteien vertreten. In der Rechnung zur Bundestagswahl wurde auf eine Sperrklausel verzichtet.

4. Vorbild Türkei: Zehn-Prozent-Hürde

Erhält eine Partei in diesem Modell landesweit weniger als zehn Prozent der abgegebenen Stimmen, werden diese Stimmen nicht berücksichtigt. Eine Zehn-Prozent-Sperrklausel gilt in der Türkei. Das dortige Wahlsystem ist etwas komplizierter, die Modellrechnung zeigt, wie sich der Bundestag bei einer reinen Verhältniswahl (Zweitstimmenergebnis) zusammensetzt in Kombination mit einer Zehn-Prozent-Hürde. Für das Jahr 2009 macht es zwar keinen Unterschied, ob die Sperrklausel bei fünf oder zehn Prozent lag, denn die Grünen holten damals 10,7 Prozent der Stimmen, die Linke 11,9 Prozent und die FDP 14,6. Bei der kommenden Wahl aber könnte eine Zehn-Prozent-Hürde den Unterschied zwischen einem Drei- bis Vier-Parteien-System und einem Fünf- oder Sechs-Parteien-System ausmachen.

5. Vorbild Griechenland: 50 Bonussitze

In diesem Modell werden 548 Bundestagsmandate durch eine Verhältniswahl (Zweitstimmenergebnis der Bundestagswahl) mit Fünf-Prozent-Hürde vergeben. Weitere 50 Mandate gehen an die stärkste Partei.

6. Vorbild Italien: 54 Prozent Sitzanteil für stärkste Partei

Auch hier handelt es sich um ein modifiziertes Verhältniswahlsystem, es wird in Italien angewendet. Die stärkste Parteien-Koalition erhält automatisch 54 Prozent der Mandate, in der Modellrechnung also 323 von 598 Sitzen. Die übrigen Mandate werden annähernd proportional auf die restlichen Parteien verteilt. In der Modellrechnung für den Bundestag gilt die Fünf-Prozent-Hürde.

7. Vorbild Japan: Grabenwahlrecht

Die Hälfte der Sitze im Parlament werden durch relative Mehrheitswahl in Wahlkreisen besetzt, die anderen 299 Sitze gehen durch Verhältniswahl an Parteien - unter Berücksichtigung der Fünf-Prozent-Hürde. Erst- und Zweitstimmen werden also separat ausgewertet, die Ergebnisse aus den Wahlkreisen nicht mit der Listenwahl verrechnet.

Wie die Parteien das Wahlrecht verändern wollen

8. Reform CDU/CSU/FDP von 2011: Derzeit gültiges Wahlgesetz

Die Parteien schließen ihre Landeslisten nicht mehr zu bundesweiten Listenverbindungen zusammen. Jedes Bundesland wählt also seine Volksvertreter separat. Würden einer Partei in einem Bundesland aber beispielsweise 25,4 Mandate zustehen, darf sie die Stimmen, die nicht für ein ganzes Mandat reichen, bundesweit verrechnen. Dadurch entstehen zusätzliche "Reststimmenmandate". Überhangmandate bleiben erhalten und werden nicht ausgeglichen.

9. Entwurf SPD

Wie bei fast allen Landtagswahlen üblich, sollen den Überhangmandaten Ausgleichsmandate gegenübergestellt werden, damit die Sitzverteilung im Parlament möglichst genau dem Verhältnis der Zweitstimmen entspricht. Der Bundestag würde durch diese Regelung größer. Die SPD kann sich vorstellen, die Zahl der Wahlkreise zu verringern.

10. Entwurf Grüne

Wenn eine Partei in einem Bundesland Überhangmandate hat, soll sie das mit den Listenergebnissen aus einem anderen Bundesland verrechnen. Hat eine Partei keine Listenmandate, dann sollen die siegreichen Kandidaten in einigen Wahlkreisen leer ausgehen. Die Grünen schlagen vor, dass so viele Wahlkreissieger in der Reihenfolge der niedrigsten Erststimmenanteile keinen Sitz erhalten, dass kein Überhang mehr besteht.

11. Entwurf Linke

Wie die Grünen fordert die Linke, dass Direktmandate und Zweitstimmen nicht mehr pro Bundesland, sondern bundesweit verrechnet werden. Sofern dann in "seltenen" Fällen - wie bei der CSU in Bayern - dennoch Überhangmandate entstehen, sollen diese nach dem Willen der Linksfraktion zwar zuerkannt, aber mit Ausgleichsmandaten kompensiert werden. Die Fünf-Prozent-Hürde soll abgeschafft werden.

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