Vor dem EU-Lateinamerika-Gipfel:Wirtschaftsboom mit dunklen Schatten

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Petrobas-Tankstelle in Brasilien: Viele Ölkonzerne in Südamerika sind verstaatlicht. (Foto: AFP)

60 Staats- und Regierungschefs reisen zum EU-Lateinamerika-Gipfel nach Chile, auch Angela Merkel. Das Interesse am südamerikanische Wirtschaftsraum ist riesig: Viele Länder der Region florieren, ihre unermesslichen Rohstoffe haben ihnen Wohlstand gebracht - und Unglück.

Peter Burghardt

Ein Symbol des südlichen Reichtums liegt 1500 Kilometer nördlich von Santiago de Chile, wo sich Lateinamerika und Europäische Union am Wochenende zum Gipfeltreffen versammeln. Es ist ein riesiges Loch. Jeder staunt, der in Chuquicamata mit Mundschutz und Helm vor dem weltgrößten Kupfer-Tagebau steht. Eifriger als da oben auf 2800 Meter Höhe unter der Sonne der Atacama-Wüste hat die Menschheit noch nirgendwo sonst gegraben: 3,5 Kilometer lang, 4,5 Kilometer breit, 1250 Meter tief.

In dem staubigen Krater wirken die Lastwagen mit ihren 3,80 Meter hohen Reifen wie Spielzeugautos. Seit fast einem Jahrhundert wird hier gesprengt, gebohrt, gehämmert und aus dem Gestein gelöst, Millionen Tonnen Kupfer wurden verkauft. "Das ist immer noch das Herz der chilenischen Wirtschaft", sagt Patricio Huerta vom staatlichen Konzern Codelco, als er seine Gäste über die riesige Dauerbaustelle an der Grube führt.

Zwar exportiert das schmale Land zwischen Anden und Pazifik auch Produkte wie Holz, Lachs und Wein, aber das Wohl der Nation hängt wie eh und je vor allem an diesem Edelmetall. Der Erlös beschert Chile bedeutende Einnahmen und trug wesentlich zum Wachstum bei, aber auch zu Streit und Tod. Die Republik besitzt die üppigsten Kupfervorkommen der Erde (was zu gewaltigen Einkommensunterschieden geführt hat), künftig soll Chuquicamata zunehmend unterirdisch ausgebeutet werden.

So wie auch andere Stollen, San José zum Beispiel. Dort, bei Copiapó, wurden 2010 erst 33 Kumpel verschüttet und nach 69 Tagen vor den Kameras der Welt gerettet. "Wir investieren und bereiten uns auf einen neuen Boom vor", erläutert PR-Mann Huerta. Wichtigster Käufer ist China. So ähnlich geht es mit Rohstoffen aller Art fast der gesamten Nachbarschaft, die Schätze sind Segen und Fluch.

Der Rausch begann bereits vor fast 500 Jahren, besonders in Potosí im Hochland des heutigen Bolivien. Die Minen auf mehr als 4000 Meter Höhe waren einst der Inbegriff des kolonialen Wohlstands - mit dem Silber hätte sich eine Brücke bis über den Atlantik nach Sevilla bauen lassen, hieß es. Die Spanier transportierten die Beute auf Schiffen in die Heimat, zur Ladung gehörten Münzen königlicher Prägung. "Vale un Potosí", das ist ein Vermögen wert, wurde ein geflügeltes Wort.

Nur die Einheimischen verloren meistens. Strapazen und Krankheiten rafften Millionen Arbeiter dahin, vor allem Ureinwohner. Potosí verkam später zu einer der ärmsten Städte des armen Bolivien, obwohl Kumpel den Berg Cerro Rico noch immer durchlöchern. Ein halbes Jahrtausend danach wird auf dem Subkontinent nun mehr denn je nach Wohlstand in den Böden gegraben. Diesmal will die Region gewinnen.

Fast alle Volkswirtschaften zwischen Rio Grande und Feuerland haben in den vergangenen Jahren erheblich zugelegt, beim Aufschwung half die Nachfrage aus Asien. Brasilien verdiente mit Soja, Eisenerz, Fleisch und anderen Früchten der Natur, obendrein entdeckte man vor der Küste Öl. Argentinien befreite sich dank seiner Ernten aus der Pleite. Peru machte mit Gold, Silber und Fischerei Kasse, Bolivien mit Eisenerz und Gas. Venezuela und Ecuador kam der hohe Ölpreis entgegen, Bolivien, Argentinien und Chile setzen außerdem auf Lithium für Batterien von Autos, Handys und Laptops, Bolivianer träumen am Salzsee von Uyuni von einem neuen und besseren Potosí.

Sogar die katastrophalen Ungleichheiten gehen zurück, Mittelklasse und Binnenmarkt wachsen. Die Gegend hat, was die EU sucht: Kunden und Ressourcen. Doch wie früher vertraut Lateinamerika seinen Bodenschätzen und launischen Märkten, in Bildung und Spitzentechnologie wird vergleichsweise wenig investiert. Das Interesse an Mineralien ruft wieder Konzerne und Glücksritter auf den Plan, als sei El Dorado zu entdecken. Selten wurde in Lateinamerikas Bergen und Urwäldern so viel nach Gold, Silber, Kupfer, Nickel gebuddelt - und selten zuvor gab es so viel Ärger.

Die Beobachter des Instituts Ocmal orteten zuletzt 174 Konflikte um Minen zwischen Rio Grande und Feuerland, darunter 31 in Peru, 28 in Chile und 25 in Argentinien. Es geht um Umweltverpestung, Trinkwasser, Menschenrechte, Besitzverhältnisse, Landwirtschaft. Es wird gestreikt, bedroht, gestorben. Die meisten Menschen kamen bei Auseinandersetzungen in Peru ums Leben, obwohl der dortige Präsident Ollanta Humala früher den indigenen Demonstranten nahestand. Als Widerständler eine Straße zur Goldmine des kanadischen Marktführers Barrick blockierten, ging die Armee brutal dazwischen. Im chilenisch-argentinischen Grenzgebiet wird um ein Projekt desselben Konzerns gezankt, dort soll für die Goldmine Pascua Lama ein Gletscher verschwinden.

Großfirmen scheren sich traditionell wenig um Gesetze und Ökologie in der Fremde. Multis wie der Ölriese Chevron-Texaco in Ecuadors Dschungel nehmen gerne den Profit mit und lassen ihren Dreck zurück. Linke Regierungen nationalisierten nach den Privatisierungsexzessen der Vergangenheit zwar Schlüsselindustrien, vorneweg der jetzt schwer kranke Hugo Chávez aus Venezuela. Doch sogar der bolivianische Genosse Evo Morales liegt ständig im Clinch mit Minenarbeitern und Gewerkschaften. Und als sich indianische Anwohner gegen Lizenzen zur Ausbeutung von Öl im ecuadorianischen Regenwald wehrten, da wetterte der Ecuadorianer Rafael Correa, dieses Nein zu Öl und Minen sei "kindisch".

Viele Ölkonzerne sind in staatlicher Hand, darunter die Giganten Petrobras in Brasilien und Pemex in Mexiko sowie seit einiger Zeit auch Argentiniens YPF. Selbst das neoliberale Chile vertraut einem staatlichen Goldesel, Codelco. Der Sozialist Salvador Allende sorgte einst für die Wende, der Diktator Augusto Pinochet machte die Nationalisierung nach seinem Putsch nicht rückgängig. Doch zehn Prozent der Kupfereinnahmen bekommt die Armee - die Studenten dagegen ächzen unter horrenden Ausbildungskosten.

Die Arbeiter von Chuquicamata wurden ins benachbarte Calama umgesiedelt, weil die Luft zu schlecht ist und auch unter ihren vormaligen Häusern noch Kupfer liegt. Zurück blieb eine Geisterstadt. Und Calama ist trotz der Gewinne so schäbig, dass Bewohner klagen: "Wir produzieren Kupfer und bleiben arm."

© SZ vom 25.01.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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