Verfassungsgericht in Ägypten:Mursis letzte Chance

Verfassungsgericht in Ägypten: Die Angstgegner der Verfassungsrichter: Demonstranten mit islamistischen Bannern am Samstag.

Die Angstgegner der Verfassungsrichter: Demonstranten mit islamistischen Bannern am Samstag.

(Foto: Nariman El-Mofty/AP)

Ägyptens Oberste Richter vertagen nach Drohungen ihre Entscheidung über den umstrittenen Verfassungsentwurf von Präsident Mohammed Mursi - und könnten ihm gerade dadurch eine Hintertür öffnen.

Von Tomas Avenarius, Kairo

Ägyptens Verfassungsgericht gibt dem Druck der Straße nach: Weil Hunderte Islamisten und Anhänger von Staatschef Mohammed Mursi vor dem Kairoer Gerichtsgebäude demonstrierten, vertagten sich die Obersten Richter. Sie hatten am Sonntag über die Rechtmäßigkeit der Verfassunggebenden Versammlung entscheiden wollen und über die Frage, ob das zu Jahresanfang gewählte Oberhaus des Parlaments aufzulösen sei. "Wir sind daran gehindert worden, das Gericht zu betreten", sagte Verfassungsrichterin Tahani al-Gebali der Agentur Bloomberg. "Man drohte mit Mord und dem Niederbrennen des Gerichts."

Wegen Fehlern im Wahlgesetz hatte das Verfassungsgericht im Sommer das von den Fundamentalisten beherrschte Unterhaus aufgelöst; auch eine frühere Verfassunggebende Versammlung wurde als nicht legitimiert geschlossen. Die Vertagung des Urteils der höchsten Richter könnte nun aber den Weg frei machen für ein Referendum am 15. Dezember, mit dem Präsident Mursi und seine Muslimbrüder die neue, deutlich islamischer geprägte Verfassung "demokratisch" legitimieren und so an der vom Präsidenten "per Verfassungserlass" kaltgestellten Justiz vorbei Tatsachen schaffen wollen. Allerdings müssen laut Gesetz die Richter dieses Referendum beaufsichtigen - dies lehnten sie am Sonntagabend offiziell ab.

Restriktive Auslegung der Scharia - bislang

Verstieße die Zusammensetzung des Verfassungsrates nach Ansicht der Verfassungsrichter gegen das alte Grundgesetz, wäre die neue Verfassung ein wertloses Stück Papier. Die von den Islamisten vorgeschlagenen Änderungen reichen über frühere Verfassungsreformen hinaus: Das Mursi-Grundgesetz bietet viel Raum für die Umsetzung der Scharia als des "göttlichen Gesetzes" des Islam. Es böte das Instrument für die von den Fundamentalisten angestrebte Neo-Islamisierung der ägyptischen Gesellschaft.

Das 1979 gegründete Verfassungsgericht urteilt, ob vom Parlament erlassene Gesetze mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Außerdem entscheidet es bei Kompetenzstreitigkeiten zwischen Ägyptens Gerichten. In Einzelfragen teilte sich das Gericht seine Kompetenz mit dem Obersten Verwaltungsgericht. Das Verfassungsgericht selbst besteht aus der 18-köpfigen Generalversammlung und einem zehnköpfigen "Kommissarskollegium". Urteile werden von siebenköpfigen Kammern erlassen, Berufung ist ausgeschlossen. Maher al-Beiheiry, der Präsident des Verfassungsgerichts, wurde vom gestürzten Staatschef Hosni Mubarak eingesetzt. Laut dem niederländischen Rechtsexperten Jan Michiel Otto legten sowohl das Verfassungsgericht als auch das Verwaltungsgericht die Frage der Geltung der "Prinzipien der Scharia" bisher "restriktiv aus" und blockten so Islamisierungstendenzen ab.

Auf die Scharia konnte nur Bezug genommen werden, wenn die Vorschrift im Koran oder seinen Begleittexten ausdrücklich erwähnt wird. Aktuelle theologische Interpretationen fanden beschränkt Anwendung. Dies dürfte in der von Mursi vorgeschlagenen Verfassung anders sein: Die Gelehrten der islamischen Al-Azhar-Universität sollen eine Art Vetorecht bei der Gesetzgebung bekommen. Dies könnte zu einer strengeren Auslegung islamischer Vorschriften führen.

Die amtierenden Verfassungsrichter sind dem anti-islamistischen Lager zuzurechnen. Sie grundsätzlich als Vertreter des alten Regimes zu bezeichnen, geht aber zu weit: Unter Mubarak hatten die Richter oft widersprochen.

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