Umfragen im US-Wahlkampf:Verloren im Zahlensalat

Mitt Romney holt auf und liegt in einigen Umfragen sogar vor Barack Obama - doch was haben die Zahlen wirklich zu sagen? Wer die Ergebnisse der amerikanischen Meinungsforscher verstehen und bewerten möchte, muss auf Details achten.

Johannes Kuhn

Am Abend des 6. November wird nicht nur der Gewinner der US-Präsidentschaftswahl feststehen - auch die Meinungsforscher dürften schnell in Sieger und Verlierer eingeteilt werden. Mehr als ein Dutzend Umfrage-Institute, von American Research Group bis YouGov, versorgt Bevölkerung und Medien fast täglich mit neuen Analysen. Wenn die Stimmen ausgezählt sind, werden sie selbst daran gemessen, wie nah am Ergebnis sie letztlich lagen.

Wie kompliziert die Interpretation der Zahlen ist, zeigt der jüngste Umfrage-Aufschwung von Obama-Herausforderer Mitt Romney nach der TV-Präsidentschaftsdebatte. Die New York Times analysierte 16 Befragungen, der Zuwachs bei Romney lag dort bei Werten von plus 0,4 bis plus 12 Prozent; in zwei Umfragen legte Obama zu. Die New York Times errechnet aus diesen Abweichungen letztlich einen Durchschnittswert von plus 3,6 Prozent für den Republikaner.

Das ist noch nachvollziehbar, doch die Lage ist komplizierter: Das Wahlmänner-System sorgt dafür, dass landesweite Umfragen zwar einen Trend anzeigen können, aber für das Ergebnis letztlich nur eine Teilrelevanz haben. Entscheidend sind die Werte in den einzelnen Staaten, vor allem in den Swing States. Die Seite Real Clear Politics wertet die unterschiedlichen Ergebnisse der Meinungsforschungsinstitute aus und kommt derzeit zu dem Zwischenstand, dass Obama zwar in umkämpften Staaten wie Michigan, Pennsylvania oder Iowa eine klare Führung hat, in Ohio aber beispielsweise verliert und in Florida inzwischen sogar zurückliegt.

Wem diese Logik zu einfach ist, bitte schön: Gallup hat inzwischen die erste Umfrage veröffentlicht, bei der nicht die registrierten Wähler erfasst sind, sondern nur diejenigen, die wahrscheinlich wirklich ihre Stimme abgeben. Hier führt Romney mit zwei Prozent (landesweit). Bei den registrierten Wählern alleine führt hingegen Obama mit drei Prozent - die Demokraten haben also womöglich ein Mobilisierungsproblem.

Oder liegt das Problem bei den Meinungsforschern selbst? Sowohl bei Gallup, als auch beim Konkurrenten Pew ist seit der TV-Debatte der Teil der Befragten gewachsen, der sich in den Umfragen als den Republikanern zugehörig bezeichnet. Das lässt drei Interpretationen zu: Eine ist, dass die Meinungsforscher den Konservativen zu starkes Gewicht geben und damit das Ergebnis verzerrt ist. Das ist die Lesart - Überraschung - vieler Demokraten. Eine zweite Meinung, die Anhänger im konservativen Lager hat: Bis vor kurzem wurden überproportional viele Demokraten befragt (Romney-Berater versuchten so den großen Rückstand ihres Kandidaten Ende September zu erklären), die eher konservative Parteizuordnung entspricht der Realität. Und die dritte: Weil Romney so überzeugend in der Debatte war, geben mehr Befragte zu, sich den Republikanern zugehörig zu fühlen.

Pferderennen und selbsterfüllende Prophzeiungen

Das wirft die Frage nach der generellen Rolle von Umfragen auf: Für die Medien bieten sie die Möglichkeit, den Wahlkampf mit ständig neuen Drehs zu versehen. Kritiker wie der New Yorker Journalismusprofessor Jay Rosen bemängeln bereits seit langem, dass über den Wahlkampf in den USA wie über ein Pferderennen berichtet wird. Es geht nicht um die Themen, sondern darum, über die Aussichten der Kandidaten zu spekulieren (Anmerkung: Dem Autor ist bewusst, dass dieser Artikel dies auch tut).

Der Vergleich mit dem Pferderennen enthält aber noch einen anderen Punkt, der durchaus bemerkenswert ist: Auf der Rennbahn geht es am Ende darum, auf den Sieger zu setzen. Anhänger der Theorie einer "selbsterfüllenden Wahlprophezeiung" (jüngst noch im Romney-Lager zu finden) sind der Meinung, dass gute Umfragewerte für einen Kandidaten von entscheidender Bedeutung sind, weil ein Teil der Wähler auf den Sieger setzen möchte. Ein möglicher Umfragetrend wirkt also selbstverstärkend.

Steigen Mitt Romneys Werte also, weil er plötzlich ein Gewinner sein könnte? Oder weil die öffentliche und veröffentlichte Meinung über Obamas Debattenauftritt so negativ war? Oder sind ganz andere Faktoren entscheidend? Scott Keeter von PEW gibt bei Politico diese Erklärung: Die meisten Zugewinne konnte Romney nach der Debatte bei jungen Wählern und Frauen erreichen - zwei Gruppen, bei denen er bislang nicht besonders gut ankam. Wäre es nicht vorwiegend um die Wirtschaft, sondern um Wertefragen gegangen, hätte der Republikaner womöglich keinen so hohen Zuwachs erreicht.

Umfrage-Unfall mit Folgen

Egal, wie realitätsnah die Prognosen sind: Zumindest sind die Meinungsbilder inzwischen realitätsnäher als noch 1936, dem Jahr eines der größten Umfrage-Unfälle in der Geschichte der USA: Die Zeitschrift Literary Digest, die in vier vorigen Wahlen den Sieger richtig vorausgesagt hatte, sah in ihren Befragungen den Republikaner Alfred Landon als klaren Sieger. Am Ende gewann sein Konkurrent Franklin Delano Roosevelt 46 von 48 Staaten und wurde mit überwältigender Mehrheit Präsident.

Wie sich später herausstellte, hatte der Literary Digest zwar 2,4 Millionen Menschen gefragt. Diese Gruppe bestand allerdings nur aus eigenen Lesern, Auto-Besitzern und Inhabern eines Telefonanschlusses. Die Folge: Nur die Meinung der Amerikaner, die für damalige Verhältnisse äußerst wohlhabend waren, floss in die Prognose ein. Von der falschen Vorhersage erholte sich die Zeitschrift nicht mehr - sie wurde 1938 eingestellt.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: