Übergriffe auf Frauen in Ägypten:Warum der Ruf nach Frauenrechten Heuchelei ist

Eine Demonstrantin, die an den Haaren über den Tahrir-Platz geschleift, von Soldaten geschlagen und getreten wird: Kaum ein anderes Bild hat in Ägypten für so viel Empörung gesorgt. Doch die Empörung ist heuchlerisch. Frauen sind auch nach der Revolution unterdrückt wie zuvor. Ihre Rechte sind nicht das politische Ziel der Aufstände - oft nicht einmal der Frauen selbst.

Sonja Zekri, Kairo

Die Radikalsten wollen die blaue Wäsche zum neuen Symbol der Revolution erheben. Als ägyptische Soldaten auf dem Tahrir einer verschleierten Frau die Kleider vom Leib rissen, der Entblößten, Bewusstlosen ins Gesicht und auf die Brust traten, da blitzte veilchenblau ihr BH auf. Unterwäsche einer Heldin, heißt es. Andere denken größer: Ein Karikaturist zeichnete die Getretene umringt von nackten Gewalttätern, über ihrem Leib die Fahne. Ägypten wurde geschändet, so die Botschaft. Was ihr Ägyptens Frauen antut, das erleidet das ganze Land.

Women protest in Cairo

Gegen die Gewalt: Frauen protestieren in Kairo gegen Übergriffe des Militärs. 

(Foto: dpa)

Kein Ereignis der letzten zehn Monate in Ägypten - nicht der Tod christlicher Demonstranten, nicht die Verurteilung von Bloggern, nicht die Militärjustiz - hat im Ausland so umgehend und so scharfen Tadel hervorgerufen wie die Bilder der Soldaten, die eine Frau an den Haaren über den Asphalt schleifen. US-Außenministerin Hillary Clinton sprach von der "systematischen Erniedrigung" der Ägypterinnen, ja, einer "Entwürdigung der Revolution", einer Schande für den Staat und seine Armee. Aber auch Ägypten ist entrüstet. Bei einem Protestmarsch warnten die Frauen auf dem Tahrir-Platz, ihre Ehre sei "die rote Linie". Und der herrschende Militärrat, plötzlich wieder druckempfindlich, äußert Bedauern über die Entehrung der "großartigen Frauen Ägyptens".

Dabei ist, wie so oft bei Fragen von Ehre und Sexualität, viel Heuchelei im Spiel. Viele Menschen im Westen halten den Islam ohnehin für notorisch frauenfeindlich, da liefern solche Exzesse neue Anhaltspunkte. Die Aktivisten vom Tahrir-Platz empören sich öffentlich, aber hoffen insgeheim, dass der Angriff auf eine Verschleierte die Islamisten gegen die Armee auf die Straße bringt und Frauenmärsche dem schwindenden Protest neue Schubkraft verleihen. Dass Frauen auch auf dem Tahrir-Platz begrapscht und gedemütigt wurden, dass sie seit Jahren über Belästigungen klagen, dass überhaupt in Ägypten häusliche Gewalt so verbreitet ist wie Analphabetismus, kurz, dass der Schutz und die Unversehrtheit der ägyptischen Frau eine kollektive Illusion ist, darüber redet kaum jemand.

Haarsträubende "Jungfräulichkeitstest"

Noch absurder wirken die Verneigungen der Generäle. Der Militärrat hat die Frauenquote für die Parlamentswahlen praktisch abgeschafft, er verschleißt ein quasi frauenfreies Übergangskabinett nach dem anderen. Seit Monaten diffamiert die Armee männliche Demonstranten als Kriminelle oder Spione und Demonstrantinnen als Frauen von zweifelhaftem Ruf, die durch haarsträubende "Jungfräulichkeitstests" zermürbt werden sollen. Nach den Regeln einer patriarchalischen Gesellschaft trifft Gewalt gegen Frauen die moralische Glaubwürdigkeit ihrer Männer, Väter und Brüder, die sie nicht beschützen konnten, deren Ruf beschädigt wird. Selbst das Ringen um die weibliche Ehre bestätigt auf hintergründige Weise ebendiese Vorstellungen: die Frau als Eigentum, die Frau als Schlachtfeld.

Die arabischen Revolutionärinnen haben von ihrem Freiheitskampf bislang vor allem Nachteile: In Ägypten und Tunesien müssen sie sich gegen die grotesk verklemmten Phantasien der radikalen Islamisten wehren. Die Jemenitin Tawakkul Karman wurde mit dem Friedensnobelpreisausgezeichnet, aber den Machtkampf im Land entscheiden Stammesfürsten, Generäle, Präsidentensöhne. Das gespannte Verhältnis zwischen Revolution und Frauen ist nicht neu: Der österreichische Sozialdemokrat Victor Adler spottete beim Anblick von Rosa Luxemburg und Clara Zetkin über den "hysterischen Materialismus". In den arabischen Aufständen sind Frauen politisches Material, aber ihre Rechte nicht das politische Ziel - oft nicht einmal der Frauen selbst.

Wut auf den Folterstaat

In konservativen Gesellschaften verletzt sexuelle Gewalt nicht nur die Psyche, sie zielt auf die soziale Vernichtung - auch bei Männern. Die Vergewaltigung eines Kairoer Minibusfahrers durch die Polizei, als Handyfilm verbreitet, hat eine Wut auf den Folterstaat entfacht, die sich Jahre später im Sturz des Autokraten Hosni Mubarak entlud. Und ist die Szene einer entblößten Frau auf dem Tahrir-Platz tatsächlich so viel schlimmer als andere? Bilder zeigen einen Soldaten, der mit angezogenen Beinen auf einen Mann springt wie auf ein Trampolin. Uniformierte, wie im Rausch, prügeln einen Verletzten. Ein Soldat uriniert auf die Protestierenden. Ein Militärberater wünscht die Demonstranten in "Hitlers Öfen". Ist das hinnehmbar?

Nach ägyptischen Maßstäben ist mit dem Übergriff auf Frauen eine Grenze überschritten, gewiss. Aber ist es die entscheidende? Es bestehen berechtigte Zweifel, dass die Generäle das Ergebnis der Wahlen akzeptieren werden. Vielleicht gibt es einen Putsch, vielleicht Jahre der Instabilität, vielleicht kollabiert die Wirtschaft. Die Auflösung selbst winziger Proteste wird zur blutigen Abrechnung mit den Kritikern der Staatsmacht, der Armee. Wenn es schlecht läuft, bleiben in Ägypten nicht nur Frauen- und Bürgerrechte auf der Strecke, sondern das Heil des ganzen Landes.

Das Tunesien Ben Alis und das Ägypten Mubaraks waren säkulare, gleichstellungsbewusste Gewaltherrschaften. Syrien ist es bis heute. Für viele Frauen ist das keine Option mehr. Sie wollen mehr als Frauenrechte.

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