Türkei: Skandal vor Parlamentswahl:Sex, Politik und Videos

Ein Wahlkampf, so schmutzig wie nie zuvor: Kurz vor den Parlamentswahlen veröffentlicht eine mysteriöse Website prekäre Details aus dem Privatleben türkischer Oppositionspolitiker. Die vermuten die Regierung dahinter.

Kai Strittmatter, Istanbul

Die Türken sind schmutzige Wahlkämpfe gewohnt, aber der diesjährige setzt neue Rekorde. Sex, Politik und Videos, diese Mischung beherrscht die Agenda. Es sind noch drei Wochen bis zu den Parlamentswahlen am 12. Juni, und am Samstag allein waren sechs weitere Rücktritte von Oppositionspolitikern zu vermelden. Das macht nun insgesamt zehn Politiker, die innerhalb von zwei Wochen über ihre Liebschaften stolperten.

Türkei: Skandal vor Parlamentswahl: Anhänger der rechtsnationalen Oppositionspartei MHP: Hinter den Videos vermutet MHP-Vize Semih Yalcin "dunke ausländische Kräfte". Viele seiner Parteikollegen verdächtigen jedoch die Regierung.

Anhänger der rechtsnationalen Oppositionspartei MHP: Hinter den Videos vermutet MHP-Vize Semih Yalcin "dunke ausländische Kräfte". Viele seiner Parteikollegen verdächtigen jedoch die Regierung.

(Foto: AFP)

Affären, deren intimste Momente allesamt auf Videos festgehalten sind, die von einer mysteriösen Webseite der Reihe nach veröffentlicht werden. Einen "politischen Tsunami" vermeldete die Zeitung Hürriyet am Sonntag, Habertürk titelte: "Sechs Wölfe mit einem Video." Warum Wölfe? Weil die Gestrauchelten allesamt der ultranationalistischen MHP angehören, deren Parteijugend die berüchtigten Grauen Wölfe sind. Was die Affäre besonders pikant macht: Sie könnte die Wahl entscheiden, da die MHP derzeit nur knapp über der Zehn-Prozent-Hürde liegt.

Der Skandal hält die Türken aus mehreren Gründen im Bann. Die mit versteckten Kameras aufgenommenen Videos stammen zum Teil aus den privaten Schlafzimmern der Politiker. Es trifft allesamt Funktionäre einer einzigen Partei, der MHP. Und genau aus diesem Grunde sind sich die Beobachter einig: Es ist ein Komplott mit dem Ziel, die Politik zu manipulieren, die nach den Wahlen mit der Arbeit an einer neuen Verfassung vor einer historischen Weichenstellung steht. Allerdings herrscht Uneinigkeit, wer hinter dem Komplott steckt.

Klar ist: Hier explodierte eine "schmutzigen Bombe" - so die Zeitung Vatan - die das Ziel hat, die MHP aus dem Parlament zu kippen. Die Partei der Nationalen Bewegung, 1969 gegründet von dem ehemaligen Putschoberst Alparslan Türkes, ist die kleinere der zwei Oppositionsparteien im Parlament. Bei den letzten Wahlen erhielt sie etwas mehr als 14 Prozent. Ähnlich wie die größere Oppositionspartei, die Republikanische Volkspartei CHP, tat sich die MHP in den letzten Jahren weniger durch gestalterische Impulse hervor als vielmehr durch die Blockade vieler Initiativen der regierenden AKP von Premier Tayyip Erdogan. Die MHP vertritt offen rechtsextreme Positionen und agitiert regelmäßig gegen türkische Christen und Kurden oder gegen "dunkle ausländische Kräfte", die MHP-Vize Semih Yalcin auch diesmal im Verein mit der Regierung hinter den Videos am Werke sieht.

Der Skandal im Skandal

Dass das kleine Häuflein verbliebener Politiker an der MHP-Spitze, allen voran Parteichef Devlet Bahceli, mit dem Finger auf die Regierungspartei zeigt, hat einen Grund: Sie sehen in der AKP den großen Profiteur der Affäre. Die MHP mag nämlich als Nummer Drei der politischen Szene eine relativ kleine Partei sein - ihr Scheitern an der Zehn-Prozent-Hürde hätte eine bedeutende Konsequenz: Es würde der AKP nicht bloß die absolute Mehrheit sichern, die ihr sämtliche Umfragen ohnehin prophezeien, es könnte die Zahl ihrer Abgeordneten im 550-Mitglieder-Parlament im Extremfall sogar über die Zweidrittel-Mehrheit hieven.

Damit könnte die AKP im Alleingang eine neue Verfassung verabschieden, die mittlerweile quer durch die politischen Lager als nötig empfunden wird. Die alte ist ein Erbe der Putschgeneräle von 1980 und heute das entscheidende Hindernis für eine weitere Demokratisierung. Bloß wie eine Verfassung aussehen soll, darüber sind die Parteien tief zerstritten. Bringt sie am 12. Juni 330 Abgeordnete ins Parlament, dann hat die AKP das Recht, jeden ihrer Vorschläge dem Volk zu einem Referendum vorzulegen, eine Mehrheit von 367 reichte gar, um die Verfassung selbst zu verabschieden.

Nun fliegen die Anschuldigungen hin und her. MHP und CHP sehen in der mysteriösen Webseite mit dem Namen Farkli Ülkücülük ("Ein anderer Idealismus") ein schmutziges Spiel der Regierung. Die AKP weist diesen Verdacht zurück, empörte AKP-Politiker weisen darauf hin, dass die in den Umfragen schwächelnde CHP ebenfalls kräftig profitieren würde von einem Scheitern der MHP - und sehen gar die Regierungspartei als Opfer einer Intrige. Die "dunklen Mächte" des alten Apparats wollten der AKP den Skandal in die Schuhe schieben, sagte der Vizechef der AKP-Fraktion Mustafa Elitas. Die Theorie der Regierungsfreunde geht so: Die kemalistische CHP solle auf Kosten der MHP gestärkt werden, gleichzeitig sollen frustrierte MHP-Anhänger auf die Straße getrieben werden, um Chaos zu säen und die Arbeit der Regierung unmöglich zu machen.

Viele Zeitungen weisen derweil auf den Skandal im Skandal hin. So weit sei es mit der Türkei gekommen, schreibt Habertürk: "In jeder Wohnung eine Wanze. In jeder Wohnung eine Kamera."

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