Russland und das "Unternehmen Barbarossa":Steinerne Helden

In Russland gilt der 22. Juni als "Tag der Trauer". Auch 70 Jahre nach dem Angriff von Hitler-Deutschland vergessen die Russen ihre Soldaten nicht. Nikolaj Schljapnikow kämpfte in Wolokolamsk - und kehrt regelmäßig in die "Stadt des Ruhms" zurück.

Frank Nienhuysen

Es müssen nicht immer Stürme und Regenwolken sein, die Unheil ankündigen. Der Tag, an dem sich für Nikolaj Schljapnikow das Leben veränderte, versprach ein paar schöne Alltagsaugenblicke. Die Sonne schien, und viele ahnungslose Moskauer machten sich auf, hinaus ins Grüne zu fahren. Die Eltern blieben derweil zu Hause, während der jüngere Bruder draußen im Hof spielte. So war das am 22. Juni 1941, ein entspannter Beginn für die Schljapnikows, bis sie um 12 Uhr mittags das Radio einschalteten und die milde Stimmung dem Entsetzen wich. Es war die Nachricht vom Krieg.

Russland und das "Unternehmen Barbarossa": Zurück am Ort seiner "Ruhmestaten": Nikolaj Schljapnikow hat den Krieg überlebt, aber seine Seele blieb lange verwundet.

Zurück am Ort seiner "Ruhmestaten": Nikolaj Schljapnikow hat den Krieg überlebt, aber seine Seele blieb lange verwundet.

(Foto: dpa)

Ein paar Monate später musste Nikolaj Schljapnikow an die Front, nach Wolokolamsk. Zuerst ein kurzes Stück mit dem Zug, die übrigen 80 Kilometer als Fußmarsch. Aber Schljapnikow war vorbereitet. Es gab einen Spruch, den er damals wie alle Soldaten der Roten Armee verinnerlicht hat, er gilt noch Generationen nach ihm: "Groß ist Russland, aber nirgendwohin können wir zurückweichen - denn hinter uns ist Moskau."

Die deutschen Truppen sind bis nach Istra vorgestoßen, das nur etwa 25 Kilometer vor Moskau liegt. Ein Voraustrupp schaffte es sogar bis in den Moskauer Vorort Chimki. Aber Moskau lag auch hinter Wolokolamsk, einem der Schlüsselorte im Kampf um die russische Hauptstadt. Dort, wo Nikolaj Schljapnikow auf deutsche Soldaten traf.

Es waren heftige Kämpfe, Wolokolamsk wurde erobert und zurückerobert. Schljapnikow weiß noch, wie er sich wunderte über die leichte Kleidung der Deutschen. "Sie hatten dünne Mäntel, es war verrückt, wie sie angezogen waren. Offen gesagt, ihnen war sehr kalt."

Aber bitter genug war es auch für ihn. Zweimal wurde der Russe im Krieg verwundet, und sehr viel länger verletzt blieb seine Seele. "Als alles vorbei war, die Kämpfe, der Krieg, habe ich noch zehn Jahre lang im Schlaf geschrien", erzählt er.

Im Juli wird Schljapnikow 88 Jahre alt, und noch immer fährt er zwei-, dreimal im Jahr hinaus in das sanft hügelige Gebiet von Wolokolamsk, knapp 120 Kilometer nordwestlich von Moskau. Der ehemalige Oberst ist Ehrenbürger der Stadt. Russland vergisst seinen Krieg nicht, den es den Großen Vaterländischen nennt. Es gibt den 9. Mai, den "Tag des Sieges", an dem das Land kollektiv seinen historischen Stolz demonstriert. Aber es vergisst auch den 22.Juni nicht, den Tag der Trauer.

Wichtigste Jubiläum: Beginn des Krieges

Russland nutzt die Erinnerung an den Krieg, an das Heldentum vergangener Zeiten, um den Patriotismus zu schärfen und das Volk und seine Generationen unter dem Banner der Geschichte zu einen. Als das Soziologie-Institut Lewada kürzlich eine Umfrage unter mehr als 1500 Russen machte und sie nach dem wichtigsten Jubiläum in diesem Jahr fragte, nannten die meisten den Beginn des Krieges vor 70 Jahren. Er ist ihnen wichtiger noch als Jurij Gagarins erster Flug ins All, dessen Kultstatus in Russland sehr gepflegt wird; wichtiger auch als der Zerfall der Sowjetunion vor 20 Jahren.

Aber die Politik hilft auch mit, die Prioritäten zu setzen. Ein Jahr erst ist es her, dass der Kreml Wolokolamsk noch einmal besonders pries. Als sei der Rauch von den Schlachtfeldern erst vor ein paar Wochen verzogen, die deutschen Truppen erst kürzlich vertrieben, verlieh Moskau der Stadt einen neuen Status. Wie Kursk, Kronstadt, Wjasma und etwa 30 andere Orte heißt jetzt auch Wolokolamsk offiziell "Stadt des militärischen Ruhms", so hat es Präsident Dmitrij Medwedjew im Ukas Nummer 338 persönlich angeordnet.

Am Gebäude der Stadtverwaltung prangt seitdem die neue Ehre in großen Buchstaben über der Eingangstür. Auch sonst ist schwer zu übersehen, wie überall in Wolokolamsk Denkmäler gesät wurden, damit die Ereignisse vor 70 Jahren auf ewig wachgehalten werden. Ein alter Sowjetpanzer grüßt bei der Einfahrt in das Zentrum von einem Sockel. Im Stadtkern gibt es ein großes Denkmal, eine halbrunde graue Wand, auf der steht: "Ewiger Ruhm den Helden von Wolokolamsk, gefallen auf den Feldern des Großen Vaterländischen Krieges."

Geschmückt mit künstlichen Blumen, die meterhoch zu einem roten Stern geformt sind. Etwas außerhalb der Stadt stehen sechs zehn Meter hohe Steinfiguren, gut sichtbar schon aus der Ferne, jede zeigt einen Soldaten mit einer anderen Nationalität, denn auch das ist den Sowjets immer wichtig gewesen: das Land als Muster einer Völkerfreundschaft, wie problematisch diese Freundschaften inzwischen auch geworden sind.

Und natürlich das Museum. Nikolaj Schljapnikow streift noch einmal die Exponate aus alter Zeit. Den Stahlhelm eines deutschen Soldaten, farbige Schlachtengemälde, die Tafel mit den Pfeilen für die Vormärsche und Rückzüge der Truppen. Die Lithographie mit einem Panzer, der steckenbleibt im Schnee bei minus 40 Grad, und Soldaten, die tot unter einem Telegrafenmasten liegen. Und natürlich die Fotos mit Präsident Medwedjew, der vor einem Jahr das Museum besucht hat, als er Wolokolamsk aus der drohenden Anonymität herausholte und nach Dekaden zur Ruhmesstadt krönte.

So frisch die Erinnerungen auch sind für Schljapnikow, sie liegen doch lange genug zurück, dass von der früheren Feindschaft nichts geblieben ist. "Hass gegenüber Deutschen kenne ich nicht", sagt er. "Als ich im Krieg verletzt in einem Lazarett lag, habe ich mit großem Vergnügen Lion Feuchtwanger gelesen, ,Die hässliche Herzogin', ,Jud Süß', ,Erfolg'. Nicht das Volk hatte Schuld, sondern ein bestimmter Teil von ihm."

Die Museumsleiterin, Raissa Fedtschenko, die Medwedjew vor einem Jahr durch die Räume der Ausstellung geführt hat, freut sich, dass Schljapnikow gekommen ist. In den neunziger Jahren habe das Interesse an der Vergangenheit stark nachgelassen, sagt sie. "Jetzt kommen endlich wieder mehr Menschen, Schulklassen vor allem, auch Teilnehmer des Kriegs."

Wie Nikolaj Schljapnikow. Aber jetzt muss der Veteran das Museum verlassen und zurück nach Moskau, wo er wohnt. Er wirkt unsentimental und entspannt. Er weiß, er kommt ohnehin bald zurück nach Wolokolamsk. Vielleicht schon an diesem 22. Juni.

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