Prozess um Sergej Magnitskij:Wer die Totenruhe stört

Friends and relatives follow the coffin of Magnitsky during his funeral at a cemetery in Moscow

Freunde und Verwandte tragen Sergej Magnitskij zu Grabe.

(Foto: REUTERS)

Ein Angeklagter lebt im Ausland, der andere ist tot: Nicht einmal russische Medien können sich an einen derart bizarren Prozess erinnern wie den um die angebliche Steuerhinterziehung von Sergej Magnitskij. Das Verfahren zeigt, dass sich Russland immer mehr von den demokratischen Werten entfernt, die in Europa zählen.

Ein Kommentar von Frank Nienhuysen, Moskau

Ein höchst sonderbarer Prozess hat vor einem Moskauer Gericht begonnen, und die Frage stellt sich mehr als sonst, mit welchem Urteil er überhaupt enden könnte. Einer der beiden Angeklagten, William Browder, ist deshalb nicht persönlich anwesend, weil er in Großbritannien lebt - das allein ist noch nicht außergewöhnlich. Der andere Angeklagte aber, Sergej Magnitskij, muss dem Gericht fernbleiben, weil er schon lange tot ist, gestorben vor drei Jahren in einem Moskauer Untersuchungsgefängnis.

Beide sollen den russischen Staat mit gefälschten Steuererklärungen um mehr als zehn Millionen Euro betrogen haben. Ein Prozess also gegen einen Verstorbenen - nicht einmal den russischen Medien ist erinnerlich, ob es so etwas in ihrem Land jemals gegeben hat. Russland entfernt sich damit weiter von den Gepflogenheiten eines Rechtsstaats und den demokratischen Werten, die in Europa zählen.

Bestrafung der Angeklagten ist nicht das Ziel

Bestrafung kann im Fall Magnitskij schwerlich das Ziel sein. Bestraft fühlt sich angesichts des bizarren Verfahrens allenfalls die Mutter des Verstorbenen, die trotz aller Appelle an die Behörden den fragwürdigen Prozess nicht verhindern konnte. Sie sieht das Ansehen ihres Sohnes befleckt. Und genau darum scheint es in dem Prozess zu gehen: um Ansehen - um das von Sergej Magnitskij und auch um das von Russland.

Der Fall Magnitskij ist nämlich längst über all jene juristischen Sachverhalte und Vorwürfe hinausgewachsen, die den Kern bilden. Magnitskij hatte als Anwalt und Berater eines Investment-Unternehmens einer Reihe von russischen Staatsbeamten Steuerbetrug in dreistelliger Millionenhöhe vorgeworfen. Später wurde er selber dieses Vergehens beschuldigt und kam in Untersuchungshaft, wo er unter qualvollen Umständen starb.

Bisher ist niemand von der russischen Justiz für diesen Tod zur Verantwortung gezogen worden. Und so begann die Spirale des Misstrauens: Amerikanische Sanktionen gegen russische Funktionäre, russische Sanktionen gegen amerikanische Funktionäre, Adoptionsverbot gegen US-Bürger. Inzwischen hat der Fall Magnitskij das Verhältnis der beiden Mächte Russland und USA schwer belastet, und er könnte auch noch die Beziehungen zwischen Moskau und einzelnen europäischen Staaten trüben.

Es geht um Glaubwürdigkeit und Stolz

Die Stimmen derer sind nicht verstummt, die meinen, dass auch andere Länder sich Washington anschließen und Reiseverbote gegen russische Funktionäre erlassen sollten. Der Fall Magnitskij ist keineswegs erledigt. Es geht um viel, nicht zuletzt um Glaubwürdigkeit - und Stolz.

Der Prozess gegen den toten Magnitskij ist offenbar der Versuch Moskaus zu zeigen, dass der Verstorbene Schuld auf sich geladen hat, dass seine Untersuchungshaft einst gerechtfertigt war, dass die Sanktionen gegen Russland unverhältnismäßig sind - und hochrangige Staatsbedienstete keineswegs in Steuerverbrechen verstrickt sind.

Patriotismus in der Heimat beschwören

Im Ausland dürften diese Botschaften allerdings kaum verfangen. Daheim aber könnte ein Doppelurteil gegen Browder und Magnitskij der Regierung dabei helfen, den Patriotismus zu beschwören, falls weitere Staaten künftig mit Sanktionen drohen.

Doch diese Taktik ist zu kurz gedacht. Russland braucht auch ausländische Investitionen, um seine ambitionierten Wirtschaftsziele voranzutreiben. Dafür wirbt es eindringlich, ohne jedoch zu begreifen, dass Vertrauen in ein Land langfristig nicht nur von Zinssätzen und Gewinnsteuern abhängt.

Vertrauen hat auch mit der Zuverlässigkeit und Unabhängigkeit der Gerichte zu tun. Einen Prozess gegen den verstorbenen Magnitskij zu führen, stärkt allerdings nur die Skepsis. Tote, das muss auch für die russische Justiz gelten, sollte man ruhen lassen.

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