Protokolle aus Gaza:"Wenn es knallt, singen und lachen wir so laut wir können"

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Kontakt in den Gazastreifen herzustellen ist schwierig. Es gibt stundenlang keinen Strom, das Internet funktioniert nicht immer, Tag und Nacht fliegen Bomben. Kaum einer geht zur Arbeit, die Schule fällt aus, Stillstand. Wenn man doch mit Menschen in Gaza sprechen kann, bekommt man Geschichten von Verzweiflung und Zorn zu hören. Aber auch von Hoffnung.

Charlotte Theile

Die Familien in Gaza sitzen zu Hause, verbrauchen ihre Vorräte und versuchen, sich von den Raketen um sie herum abzulenken. So gut es geht verfolgen sie die Nachrichten, hoffen auf einen Waffenstillstand, zumindest für ein paar Stunden, damit man einkaufen gehen kann. Bunker oder Bombenalarm gibt es nicht. Protokolle von Menschen in Lebensgefahr.

Ragy Mousalm ist 50 Jahre alt, hat fünf Kinder und in Deutschland studiert. Dorthin zurückkehren ist für seine große Familie zu aufwendig. (Foto: Privat)

Ragy Mousalm, 50, Bauingenieur

Ich befinde mich im westlichen Teil von Gaza-Stadt. Seit sechs Tagen haben meine Frau, meine fünf Kinder und ich kaum das Haus verlassen - zu gefährlich. Unser Haus, ein mehrstöckiges Gebäude, wackelt bei jedem Einschlag, als würde es gleich zusammenfallen. Das ist lebensgefährlich. Meine Kinder haben unglaubliche Angst, besonders nachts. Wir sitzen die ganze Zeit herum und versuchen, uns irgendwie abzulenken. Die Fensterscheiben sind kaputt, es ist heiß und wenn man hinaussieht, kann man Bomben fliegen sehen.

Ein Freund von mir, 42 Jahre alt, ist vor ein paar Tagen bei einem Angriff getötet worden. Ich könnte ins Ausland flüchten, aber mit einer siebenköpfigen Familie ist das wirklich nicht einfach. Ich gehöre zu denjenigen, die auf keinen Fall an Gewalt glauben. Die einzige Lösung ist, miteinander zu reden. Den Zorn auf die Israelis verstehe ich trotzdem. Wir leben hier in Angst, jeden Tag.

Usama Antar vor seinem Haus. Er sendet Grüße aus dem "sonnigen, jedoch traurigen Gaza". (Foto: Privat)

Usama Antar, 45, Politikwissenschaftler

Weniger als 500 Meter von meinem Haus entfernt ist ein Sicherheitsgebäude, schon deshalb schlagen die Bomben hier ziemlich nah ein. Wenn die Rakete fünf oder sechs Kilometer von hier einschlägt, ist es schon wahnsinnig laut. Neulich ist nachts ein Haus hundert Meter von hier beschossen worden, um 3.20 Uhr. Sie können sich vorstellen, wie laut das war. Splitter fliegen herum, treffen Frauen, Kinder und alte Leute. Meine vier Kinder haben sehr, sehr viel Angst. Besonders mein Zehnjähriger fürchtet sich, er stellt viele Fragen zu dem Krieg. Auf die meisten weiß ich keine Antwort. Meine kleine Tochter versuche ich mit Bonbons und Schokolade zu beruhigen. Funktioniert nicht besonders gut.

Mein Haus steht nur 200 Meter vom Meer entfernt. Wenn die Israelis übers Meer kommen, bin ich zwischen den Fronten gefangen. Trotzdem gehen wir nicht weg, Fliehen ist gefährlicher, als einfach zu Hause zu bleiben. Wir können sowieso nichts Anderes tun, als uns in unser Schicksal zu ergeben. Gaza ist meine Heimat, hier bleibe ich, auch wenn es Krieg gibt. Ich denke im Moment viel an den letzten Krieg 2009, an all die Freunde und Bekannten, die damals gestorben sind. In Israel gibt es Keller, Bunker, Bombenalarm. Hier nicht. Dabei könnte man damit viele Menschenleben retten, 50 Sekunden wie in Israel bräuchten wir ja gar nicht. Zehn Sekunden wären schon toll.

Ali Aljamal, 40, Apotheker

Gerade bekam ich die Nachricht, dass niemand mehr auf die Straße gehen soll, eine Warnung der UN. Es wird buchstäblich auf alles geschossen, was sich bewegt. Aber ich muss zur Arbeit, als Apotheker werde ich jetzt besonders gebraucht. Die Krankenhäuser sind überfüllt, und der Weg dahin ist zu weit und zu gefährlich. Daher kommen die meisten zu mir, vor allem Eltern mit Kindern. Glücklicherweise habe ich nicht nur Pharmazie, sondern auch Selbstmedikation gelernt, kann die Kinder untersuchen und Diagnosen stellen. Meine eigenen Kinder sind sieben, sechs und drei Jahre alt. Zum Glück haben sie keine Angst, auch wenn die Einschläge manchmal sehr nah sind. Wenn es wie aus dem Nichts knallt und raucht, fangen wir an zu singen und zu lachen, so laut wir können. So nehmen wir dem Krieg den Schrecken, zumindest ein bisschen.

Auf dem Weg zur Arbeit habe ich in den letzten Tagen zweimal gesehen, wie jemand abgeschossen wurde. Trotzdem ist zu Fuß gehen sicherer als Autofahren, Autos werden am häufigsten bombardiert. Und vier Mal haben sie den Friedhof hier in der Nähe beschossen, dabei ist dort nun wirklich niemand mehr, der Israel gefährlich werden könnte. Kann sein, dass ich auch bald dort liege. Aber ich bleibe hier, ob über der Erde oder unter der Erde. Meinen richtigen Namen kann ich Ihnen nicht nennen - ich fahre hin und wieder nach Ramallah und möchte auf keine Fall Probleme an der Grenze bekommen.

Rana Baker, 21, studiert Betriebswirtschaft

Ich blogge und bin auf Twitter aktiv. Das ist für mich die Möglichkeit, der Welt mitzuteilen, was hier gerade geschieht. Die westlichen Medien zeigen unsere Toten nicht, dabei werden jeden Tag und besonders jede Nacht so viele getötet. Einen sicheren Ort gibt es in Gaza nicht, es kann dich auch in deinem Wohnhaus treffen. Ich wohne gegenüber vom größten Krankenhaus in Gaza, dem Shifa Hospital und sehe die vielen Verletzten. Alles erinnert mich an den Krieg vor vier Jahren, Zivilisten werden getötet, man kann sich nirgendwo mehr sicher fühlen. Meine politische Meinung ist eindeutig: Wir sind von Israel besetzt und haben daher das Recht, uns zu wehren.

Mein Foto möchte ich lieber nicht veröffentlichen, dann können sie mich zu leicht orten. Ich habe ohnehin schon Angst, dass mein Twitter-Account gehackt wird. Den Master möchte ich wahrscheinlich in Großbritannien machen. Danach komme ich zurück - ich möchte mich für meine Heimat einsetzen, als Wissenschaftlerin vielleicht oder in der freien Wirtschaft.

Khalili Shaheen, 46, arbeitet beim Palästinensischen Zentrum für Menschenrechte

Mein Haus im Osten von Gaza-Stadt ist gerade evakuiert worden. Ich wohne jetzt bei dem Verlobten meiner Tochter, das ist näher bei der Arbeit. Viele Kollegen von mir werden gerade jetzt evakuiert. Wir haben hunderte Tote und Verletzte, um die wir uns kümmern müssen, die meisten davon Frauen und Kinder. Die Zustände in den Krankenhäusern sind katastrophal, es fehlt an allem, um die Verwundeten zu versorgen. Bei früheren Angriffen der Israelis gab es Warnschüsse, Alert Missiles genannt. Jetzt gibt es die nicht mehr. Dadurch steigt die Anzahl der Opfer extrem. Die Notfall-Teams kommen kaum zu den Menschen durch, das macht es noch schwieriger. Außerdem folgt auf einen Schlag oft innerhalb von Minuten ein zweiter. Unter diesen Bedingungen Menschen zu retten und zu behandeln ist sehr kompliziert.

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