Proteste in Ägypten:"Mursi muss sich anhören, was wir zu sagen haben"

Die Auseinandersetzung findet wieder auf der Straße statt: Anhänger und Gegner des ägyptischen Präsidenten Mursi bewerfen sich mit Steinen und verprügeln sich mit Eisenstangen. Der Protest zeigt, dass immer noch kein sozialer Frieden eingekehrt ist - die Politik ist daran nicht unschuldig.

Sonja Zekri, Kairo

Kairo Tahrir Mursi Ägypten

Der Tahrir-Platz kommt nicht zur Ruhe: Oppositionelle protestieren gegen den ägyptischen Präsidenten.

(Foto: AFP)

Anhänger und Gegner des ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi sind am Freitag auf dem Tahrir-Platz in Kairo aneinander geraten. Einige hundert Protestierende hatten Mursi nach gut 100 Tagen im Amt bei einem "Freitag der Verantwortung" kritisiert, unter ihnen vor allem Linke und Säkulare. Sie fordern unter anderem die Einführung eines Mindest- und eines Höchstlohnes, zudem wollen sie eine andere Zusammensetzung der Verfassungskommission. Diese wird derzeit von Islamisten dominiert. "Mursi ist nicht nur der Präsident der Muslimbrüder, er muss sich anhören, was wir zu sagen haben", forderte einer der Demonstranten, der Kunstdozent Magdi Hussein.

Anhänger Mursis aus der islamistischen Bruderschaft hatten zuvor "Mursi, wir lieben dich!" gerufen und Medienb laut Medienberichten eine Bühne der Gegenseite Mursi-Gegner gestürmt. Beide Seiten bewarfen sich dann mit Steinen und schlugen einander mit Stöcken und Fäusten. Am Nachmittag floss der Verkehr dennoch weiter. Im Laufe des Abends spitzte sich die Situation zu: In der Nähe des Ägyptischen Museums wurden zwei Busse in Brand gesetzt. Rettungswagen brachten Dutzende Verletzte in die Krankenhäuser. Unter die Protestierenden hatten sich gewaltbereite Fußballfans gemischt. Sie fordern die Aufklärung von Krawallen bei einem Fußballspiel im vergangenen Jahr in Port Said mit 70 Toten.

Die Mursi-Anhänger waren unter dem Motto "Säuberung der Justiz" auf den Platz gezogen. Mursi hatte am Donnerstag Generalstaatsanwalt Abdel Maguid Mahmud entlassen, nachdem am Mittwoch 24 Angeklagte im sogenannten Kamel-Angriff-Prozess freigesprochen worden waren. Während des Aufstandes gegen Präsident Hosni Mubarak im vergangenen Jahr waren Reiter auf Pferden und Kamelen über die Protestierenden auf dem Tahrir-Platz hergefallen. Viele Menschen wurden verletzt, es gab Tote. Zu den Angeklagten gehörten Schlüsselfiguren des Mubarak-Regimes, unter ihnen Parlamentssprecher Fathi Surur. Nach Angaben des Richters reichten die Zeugenaussagen für eine Verurteilung nicht aus. Mursi kündigte am Abend an, die Freigesprochenen erneut vor Gericht zu stellen.

Die Urteile hatten große Empörung ausgelöst. Am Donnerstag hatte Mursi angeordnet, Generalstaatsanwalt Mahmud solle Botschafter im Vatikan werden. In einer überraschenden Wendung hatte sich dieser aber ägyptischen Medien zufolge geweigert, seinen Posten aufzugeben. Auf einer Internetseite sagte er, er sei "sehr wütend" über Mursis Schritt und werde sein Amt nicht aufgeben.

"Dies ist eine Farce"

Dabei ist nicht einmal klar, ob Mursi überhaupt befugt ist, den Generalstaatsanwalt zu entlassen - und sei es durch Beförderung zum Botschafter beim Vatikan. Vor allem die Richter protestierten gegen Mursis Anordnung. "Dies ist eine Farce, wir werden nicht nachgeben", sagte Ahmed al-Sind, der Vorsitzende der Richtervereinigung, der Agentur AP: "Die Zeit der Diktaturen ist vorbei." Die Richter, so Sind, solidarisierten sich mit dem Generalstaatsanwalt.

Zwar beklagen viele Ägypter, dass im Justizapparat sowie in anderen staatlichen Institutionen noch immer etliche Verantwortliche der Mubarak-Zeit arbeiten. Allerdings trauen viele den Muslimbrüdern, denen Mursi bis zum Amtsantritt angehörte, keinen ehrlichen Reformwillen zu: Viele Positionen, etwa im Kabinett oder in den Medien, hat er nach der Entfernung der alten Gesichter durch<NO>mit Islamisten oder Sympathisanten besetzt. Mursi, so befürchten einige Liberale, wolle lediglich das alte autokratische System in neuer Besetzung fortführen. Als Beispiel gilt ihnen die Verfassungskommission. Diese wird von Islamisten dominiert - Muslimbrüdern und Salafisten. Der vor wenigen Tagen in Teilen vorgestellte Verfassungsentwurf betont vor allem in den Artikeln über Frauenrechte die Anwendung der islamischen Scharia-Gesetze.

Mursis Schritt gegen den Generalstaatsanwalt sei umso erstaunlicher, als die Muslimbrüder in der Opposition gegen Mubarak stets die Unabhängigkeit der Justiz gefordert hatten, sagen Kritiker. Inzwischen aber sind einige der damals kritischen Richter selbst in hohe Ämter aufgestiegen und sehen sich der Kritik von ihren Amtskollegen in den Gerichten ausgesetzt. Einige Ägypter vermuten, Mursi wolle nur von Vorwürfen wegen seiner Amtsführung ablenken.Zwar weisen einige Umfragen in staatlichen Medien beachtliche Popularitätswerte auf, doch liegen ägyptische Umfragen regelmäßig daneben.Einen realistischen Eindruck von der Popularität der Muslimbrüder, als deren Präsident Mursi auch nach seinem Austritt aus der Organisation weiterhin gilt, dürften erst Neuwahlen bieten. 60 Tage nach dem für Dezember geplanten Referendum über die Verfassung müssen die Ägypter erneut über die Zusammensetzung ihres Parlaments abstimmen. Derzeit vereinen Muslimbrüder und Islamisten zusammen fast 70 der Mandate auf sich.

Beobachter halten es für möglich, dass die Muslimbrüder als Regierungspartei verlieren werden. Salafisten und Muslimbrüder sind sich derzeit noch uneinig über ein neues Wahlgesetz. Das alte hatte das Verfassungsgericht in Teilen für ungültig erklärt. Danach war auch die Legitimität des Unterhauses infrage gestellt. Mursi hatte das Haus einmal zu einer kurzen Sitzung einberufen. Seitdem hat es nicht mehr getagt.

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