Proteste gegen Mursi:Die Revolution kehrt auf den Tahrir-Platz zurück

Vom ersten frei gewählten Präsidenten Ägyptens zum Hassobjekt der Massen: Mohammed Mursi und seine Muslimbrüder haben massiv an Ansehen verloren - droht nach den wütenden Protesten nun auch der Sturz des Diktators auf Zeit?

Von Sonja Zekri, Kairo

Von oben sieht alles aus wie damals, die gleichen Zelte auf zermatschtem Rasen, das Pathos, die Banner. Ägyptens Opposition hat den Tahrir-Platz in Kairo gefüllt aus Protest gegen den Präsidenten. So war es im Januar 2011, so ist es jetzt. Davon abgesehen ist alles anders.

Schadenfroh vermessen die Gegner von Mohammed Mursi die gewaltige Fallstrecke - vom ersten frei gewählten Präsidenten Ägyptens zum Hassobjekt der Massen. Wofür Mubarak 30 Jahre brauchte, habe Mursi in fünf Monaten geschafft, lästern sie. Verglichen mit dem Islamisten sei der gestürzte Dauerpräsident ein politisches Genie gewesen.

Mit seiner Verfassungserklärung, die ihn zum Diktator auf Zeit macht - die zeitliche Einschränkung provoziert in Ägypten viel Gelächter -, hat Mursi selbst jene auf die Beine gebracht, die nie im Leben demonstriert haben. Eineinhalb Jahre lang schien der Aufstieg der Islamisten unaufhaltsam, während sich die Säkularen beleidigt in Salons und Fernsehrunden verkrochen. Hypnotisiert hatte das Land, ja: die Welt, den Siegeszug der Islamisten verfolgt.

Der Tahrir-Platz gehört wieder allen

Nacheinander eroberten die Muslimbrüder Parlament, Verfassungskommission und dann die Spitze des Staates, als gäbe es dafür nicht nur politische Gründe - etwa den Bonus der Unterdrückten unter Mubarak oder die jahrzehntelang organisierte Armenfürsorge. Nein, so sahen es manche im Westen, eine quasi naturhafte arabische Sehnsucht nach dem Gottesstaat brach sich da Bahn. Auch der Tahrir- Platz gehörte den Bärtigen. Nun gehört er wieder allen.

Das ist zum guten Teil das Verdienst der Islamisten selbst. Denn dass Mursi, wie behauptet, mit seiner Selbstermächtigung den politischen Übergang beschleunigen will, ist bestenfalls ein Teil der Wahrheit. Mursi und die Muslimbrüder regierten vom ersten Tag an aus der Wagenburg, begriffen Mehrheiten nur als Vehikel, um noch mehr Macht zu erobern, wollen Medien, Bildungssystem, Justiz und Gewerkschaften von "Feinden der Revolution" säubern - um Gefolgsleute der Muslimbrüder einzusetzen. Viele Islamisten sind theologische Autodidakten, aber ihr Anspruch ist so total wie der jeder Ideologie. Die Gesellschaft ist für sie Menschenmaterial für ein sozial-religiöses Experiment. Zudem bedienten sie sich der alten Tricks der Mubarak-Zeit, ohne ihre Geheimniskrämerei aus Untergrundtagen abzulegen.

Mursi eint die Opposition

Hinter ihrem Konflikt mit der Richterschaft steht der Streit um die Verfassung und damit um Ägyptens Identität. Aber selbst frommen Muslimen, die nichts gegen eine religiös fundierte Verfassung einwenden, ist dieser Alleindeutungsanspruch unheimlich. Mit der vermeintlichen Beschleunigung des Übergangs wollten die Muslimbrüder angesichts schwindender Popularität nun Fakten schaffen.

Proteste in Kairo

Proteste in Kairo: Nahe dem Tahrir-Platz demonstrieren wütende Ägypter gegen Präsident Mursi.

(Foto: REUTERS)

Gewiss, die Justiz drohte, die beiden verbliebenen politischen Institutionen aufzulösen: die Verfassungskommission und das Oberhaus - beide von Islamisten beherrscht. Und ja: Ein Teil der Richterschaft diente Mubaraks Polizeistaat. Auf dem Tahrir sind auch Kostgänger des alten Regimes vertreten, die die Religiösen verabscheuen und ihren Lebensstil verteidigen. Aber sie sind nicht die Einzigen.

Mursi hat eine Opposition geeint, die sofort übereinander herfallen würde, verlöre sie den gemeinsamen Gegner. Einige sind gegen Mursis Machterweiterung, andere fordern den Sturz des Präsidenten, wieder andere wollen die Muslimbrüder ganz loswerden. Aber dazu wird es nicht kommen. Die Islamisten, das zeigen die Proteste, können das Land so wenig vereinnahmen wie ihre Gegner. Sie sind politisch fehlbar, und sie sind politisch besiegbar. Aber sie repräsentieren einen sehr großen Teil der Gesellschaft.

Eine neue Herrschaft der Generäle ist nicht ausgeschlossen

Der Westen steht vor einem Dilemma: Mursi ist der gewählte Präsident, außerdem hat er sich im Achttagekrieg von Gaza als nützlicher Vermittler erwiesen. Soll der Westen also Interessen über Prinzipien stellen, die autokratischen Anflüge ignorieren und auf stabile Verhältnisse hoffen? Die Erfahrung der vergangenen Monate zeigt, dass Stabilität heute anders definiert wird.

Noch gibt es Raum für eine jener undurchsichtigen Schachereien, mit denen in Ägypten so oft schon das Schlimmste vermieden wurde. Aber viel Zeit bleibt nicht. Die Unruhen in Alexandria oder der Textilstadt Mahalla haben gezeigt, dass auch der Opposition Gewalt nicht fern ist.

Bislang hat sich die Armee nur vage geäußerte, aber eine neue Herrschaft der Generäle nur Monate nach dem Ende ihrer jahrzehntelangen Kontrolle ist nicht ausgeschlossen. Sie brächte keine Lösung. Wir lassen uns nicht mehr von einem Diktator regieren, sagen viele Ägypter. Das klingt treuherzig. Oder wie eine Drohung.

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