Plebiszite auf Bundesebene:Wenn die "Schrumpfversion des Volkes" bestimmt

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Auf Länderebene haben die Deutschen viel Erfahrung mit Volksentscheiden (Symbolbild), auf Bundesebene sind sie nahezu ausgeschlossen.

(Foto: dpa)

Volksentscheide auf Bundesebene gibt es in Deutschland praktisch nicht. CSU und SPD wollen das für den Fall einer großen Koalition ändern. In der Wissenschaft sind die Plebiszite umstritten, einige Experten fürchten um die Legitimität politischer Entscheidungen. Die wichtigsten Pro- und Contra-Argumente.

Von Oliver Klasen und Martin Anetzberger

Die Schweizer Bevölkerung stimmte vor Kurzem über die Begrenzung von Manager-Gehältern ab, die Iren ließen den Lissabon-Vertrag im ersten Anlauf durchfallen, und der britische Premierminister David Cameron will sein Volk befragen, ob es Mitglied der Europäischen Union bleiben möchte. Plebiszite gehören vielerorts zur demokratischen Kultur, in der Schweiz haben sie eine sehr lange Tradition. In Deutschland sind Volksentscheide auf Bundesebene nahezu ausgeschlossen. Das Grundgesetz sieht nur zwei Fälle von obligatorischen Volksentscheiden vor: eine bundesweite Abstimmung über eine neue Verfassung nach Artikel 146 und bei der Neugliederung des Bundesgebietes in den betroffenen Gebieten nach Artikel 29.

In den Bundesländern und Gemeinden spielen Volksentscheide jedoch eine große Rolle. Die Bayern setzten so ihr Nichtraucherschutz-Gesetz durch und lehnten eine erneute Olympia-Bewerbung für 2022 ab. Jetzt sorgt ein Vorstoß aus der Koalitions-Arbeitsgruppe "Inneres und Justiz" für Aufregung. Die Chefunterhändler Thomas Oppermann (SPD) und Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) sprechen sich dafür aus, Volksentscheide auf Bundesebene zuzulassen, zum Beispiel bei Fragen der Europa-Politik oder um vom Bundestag beschlossene Gesetze zu kippen. Auch die Wissenschaft beschäftigt sich mit diesem Thema. Hier die wichtigsten Argumente von Befürwortern und Gegnern:

Warum Volksentscheide sinnvoll sein können

Stärkung der Bürgerbeteiligung: Prinzipiell positiv bewerten Experten, dass sich durch Volksentscheide der Werkzeugkasten der Demokratie vergrößert. Die Bürger haben mehr Möglichkeiten, sich an der Gesetzgebung zu beteiligen. Dort wo Menschen unmittelbar an politischen Entscheidungen beteiligt seien, hätten sie eine "bessere Bindung an das politische Gemeinwesen", sagt der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel von der Humboldt-Universität Berlin. Die Identifikation mit dem demokratischen System steige, der gefühlte Abstand zur sogenannten "politischen Klasse" verringere sich. Zudem seien die Bürger eher bereit, durch direkte Abstimmungen gefällte Entscheidungen zu akzeptieren, sie schrieben den Ergebnissen eine hohe Legitimität zu.

Belebung des politischen Prozesses: Bei den Bundestags-Abstimmungen über die Euro-Rettungspakete hatten die Abgeordneten oft nur wenige Tage oder sogar nur wenige Stunden Zeit, um sich mit der Thematik zu befassen. Eine wirkliche Debatte über das Für und Wider konnte so nicht zustandekommen, die Entscheidung wurde als "alternativlos" dargestellt, um ein höheres Ziel zu erreichen - die Rettung der Euro-Gruppe. Kritiker bemängeln, dass eine lebendige demokratische Politik davon lebt, dass Menschen sich streiten und um Standpunkte kämpfen, bis die Mehrheit zu einer gemeinsamen Überzeugung kommt.

Dieser Konflikt-Verweigerung könnten Volksabstimmungen vorbeugen, insbesondere dann, wenn die Bürger dadurch bereits beschlossene Gesetze wieder abschaffen könnten. "Wenn ein Veto des Volkes droht, dann ist die Debatte im Parlament automatisch lebendiger. Dann müssen Konflikte ausgetragen werden, was einer Demokratie stets gut tut. Dann muss um Überzeugungen gerungen, dann müssen Argumente ausgetauscht werden. Das ist auch für die Interessen von Minderheiten förderlich, weil ihre Sichtweise in die Debatte mit einfließt", sagt Markus Linden, Politikwissenschaftler am Forschungszentrum Europa der Universität Trier.

Veto-Instrument gegen "durchgewunkene" Gesetze: Auch hier sind die Gesetze zur Euro-Rettung ein gutes Beispiel. Sie wurden von fast allen Fraktionen im Deutschen Bundestag mit großer Mehrheit getragen, nur die Linke stimmte dagegen. Wenn es jetzt zu einer großen Koalition kommt, dürften die konsensuellen Elemente im deutschen Parlamentarismus erheblich zunehmen, zumal die Mini-Opposition aus Grünen und Linken kaum über Instrumente verfügt, um wirkungsvoll gegenzusteuern.

Volksabstimmungen könnten hier ein Korrektiv sein. "Instrumente direkter Demokratie im Sinne eines Vetos des Volkes sind durchaus sinnvoll - gerade in Zeiten einer großen Koalition. Sie können helfen, in breitem Konsens getroffene, aber sehr intransparente und den Interessen der Bevölkerung zuwiderlaufende Entscheidungen zu revidieren und wieder einem politischen Konflikt zuzuführen", sagt Demokratieforscher Linden.

Was gegen Volksentscheide spricht

Soziale Selektivität: Das zentrale Argument der Gegner von bundesweiten Volksentscheiden ist, dass sich an diesen Wahlen lediglich ein nicht-repräsentativer Teil der Bevölkerung beteiligen würde. Politikwissenschaftler Merkel nennt es gar einen "Mythos, dass 'das Volk' abstimmen würde". Studien zeigen, dass besser gebildete Menschen öfter an Volksentscheiden teilnehmen als schlechter gebildete. Die Unterschichten blieben, aufgrund der oftmals komplexen Themen, den Abstimmungen häufiger fern als die Mittel- und Oberschicht. Manche Gegner von Plebisziten nennen dies die "Selbstexklusion der Inkompetenten", sagt Merkel.

Interessant ist auch, dass Frauen sich unterdurchschnittlich an Volksentscheiden beteiligen. Ein Phänomen, das Merkel damit erklärt, dass sich Männer bei komplexen Themen als kompetenter einschätzten als Frauen dies tun.

Niedrige Referendumsbeteiligung: Tendenziell geht die Wahlbeteiligung in etablierten Demokratien zurück. Empirische Untersuchungen in Staaten mit starker Bürgerbeteiligung zeigen, dass Volksabstimmungen unter einer noch niedrigeren Beteiligung leiden. In der Schweiz lag sie bei bundesweiten Wahlen in den vergangenen 40 Jahren im Schnitt bei 47,8 Prozent, bei bundesweiten Volksentscheiden jedoch erreichte sie lediglich 42,5 Prozent (detaillierte Ergebnisse können Sie auf diesen Seiten nachlesen).

Das ist problematisch, denn je niedriger die Beteiligung, desto größer wird die soziale Selektivität; Merkel nennt das in einem Aufsatz eine der "robusten Erkenntnisse der Wahlforschung". Zum anderen stellt eine niedrige Referendumsbeteiligung auch die Legitimität einer Abstimmung in Frage. Merkel nennt hier als Beispiel den Vorschlag von Oppermann und Friedrich, wonach die Bürger in Zukunft Gesetze des Bundestags zu Fall bringen könnten. Das bedeutet, bei einer vorgeschriebenen Beteiligung von 25 Prozent könnte ein Bruchteil der Bevölkerung eine Entscheidung revidieren, die der von einem viel größeren Teil der Bevölkerung gewählte Bundestag verabschiedet hat. Merkel zeichnet hier ein Szenario, in dem, wie er es nennt, eine "mittelständische Schrumpfversion des Volkes" fähig wäre, Gesetze zu verhindern.

Nachteil großer Abstimmungseinheiten: Als problematisch sehen Gegner, dass Volksentscheide auf regionaler Ebene wesentlich besser angenommen werden: Je kleiner die abstimmenden Kommunen, desto mehr Bürger beteiligten sich, sagt Merkel. Als Beispiel nennt er das Referendum für die Olympischen Spiele 2022. In der Millionenstadt München ging mit 28,9 Prozent ein deutlich kleinerer Anteil der Wahlberechtigten zur Abstimmung als im Landkreis Traunstein (39,98 Prozent), im Bertesgadener Land (38,25 Prozent) oder in der Marktgemeinde Garmisch-Partenkirchen (55,80 Prozent).

Direktdemokratische Elemente machen keine bessere Demokratie: Von den Befürwortern werden direktdemokratische Elemente häufig als Mittel betrachtet, um die bei den engagierten Bürgern in Ungnade gefallene repräsentative Demokratie durch die "echte" Demokratie zu ersetzen. Die Mächtigen sollen nicht mehr nach Belieben agieren können und auf die "Interessen des Volkes" hören. Dies ist doppelt fragwürdig: Diese Sichtweise birgt die Gefahr, "sich selbst als das Ganze zu sehen" und zu verkennen, dass selbst eine sehr breite Protestbewegung nie "die öffentliche Meinung" vertreten kann, wie der Politik-Professor Winfried Thaa am Beispiel der Proteste gegen Stuttgart 21 argumentiert.

Zum anderen, darauf weist der Berliner Politikwissenschaftler Merkel hin, werden Volksabstimmungen nicht per se "vom Volk" initiiert, sondern nicht selten von Verbänden oder Parteien, die über gute "politische, organisatorische und finanzielle Ressourcen" verfügen. So wäre zum Beispiel ein von der CSU angestrengtes Votum über eine Pkw-Maut für Ausländer denkbar oder über die EU-Mitgliedschaft der Türkei. Genauso wie in der repräsentativen Demokratie hätten bei Volksabstimmungen "mächtige Interessengruppen und multinationale Unternehmen einen asymmetrisch privilegierten Einfluss". Machtunterschiede werden demnach durch die Einführung plebiszitärer Elemente keinesfalls verschwinden, sondern nur auf eine andere Ebene übertragen. Eine Ausnahme stellt die Olympia-Abstimmung dar. Hier setzte sich die finanziell schlechter ausgestattete und politisch nur von den Grünen und einigen anderen kleinen Parteien getragene Seite durch.

Überforderung der Bürger: Im Vorschlag von Oppermann und Friedrich ist auch angedacht, das "Volk bei europapolitischen Entscheidungen von besonderer Tragweite direkt" zu befragen. Dazu sollen zum Beispiel die Aufnahme neuer EU-Mitglieder, die Abgabe von Kompetenzen an Brüssel und finanzielle Leistungen Deutschlands gehören, zum Beispiel Kredite oder Bürgschaften für kriselnde Partnerländer.

Hier sehen Kritiker ein weiteres großes Problem, sie halten diese Themen für zu kompliziert, als dass die Bevölkerung sich dazu eine fundierte Meinung bilden könnte. Er halte es für falsch, die Menschen mit derart schwierigen Themen "ich würde sagen, fast schon zu behelligen". Schon die Parlamentarier seien damit vollkommen überfordert, sagt Merkel. Andererseits lässt sich argumentieren, dass Fachpolitiker in den Ausschüssen, die auf ihrem Gebiet häufig Experten sind, stets einen Informationsvorsprung gegenüber dem Bürger haben.

Widerspruch zu Grundkonstruktion der repräsentativen Demokratie: Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben die Verfassung so gestaltet, dass direktdemokratische Elemente eine sehr untergeordnete Rolle spielen. Als Grund wurden hier stets die Erfahrungen aus der Weimarer Republik angeführt. Wenngleich dieses Argument in der neueren Forschung zunehmend kritisch gesehen wird, so weisen Politikwissenschaftler dennoch darauf hin, dass das bundesdeutsche System hauptsächlich durch das "Ping-Pong-Spiel zwischen Regierung und Opposition" geprägt ist, wie der Trierer Forscher Linden es bezeichnet. Der Regierung obliegt die politische Initiative und die Gestaltung, während die Opposition kritisiert und Alternativen anbietet - mit dem Ziel, bei der kommenden Wahl die Regierung abzulösen.

Dieses fein austarierte Wechselspiel würde "gestört, wenn man der Opposition die Möglichkeit gibt, über die Hintertür der plebiszitären Verfahren die Regierungspolitik zu konterkarieren", argumentiert der Bonner Politik-Professor Frank Decker, der sich bereits seit Jahren mit den Möglichkeiten direkter Demokratie beschäftigt und die SPD in diesen Fragen berät. In der Schweiz liege ein Korrektiv durch Volksabstimmungen dagegen in der Logik des Systems, weil es sich hier um eine Demokratie handele, in der alle relevanten Parteien eingebunden seien, und in der Entscheidungen im Konsens getroffen werden. "Die Oppositionsrechte werden hier tatsächlich vom Volk ausgeübt", sagt Decker. Die Praxis, dass eine Volksabstimmung ein schon bestehendes Gesetz zu Fall bringen könne, gebe es in "keiner der alten westlichen Demokratien" und selbst in der Schweiz habe sie bisher nur auf kantonaler Ebene eine Rolle gespielt. Von daher müsse sich eine mögliche große Koalition der Konsequenzen ihres Vorstoßes bewusst sein. "Das ist brandgefährlich und verändert den Charakter des politischen Prozesses", sagt Decker.

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