Michael Naumann und die Hamburger SPD:Der Rosenkavalier

"Die fressen ihm aus der Hand": Michael Naumann gilt als Weltbürger und Schöngeist und hat schon Höheres erreicht. Nun rackert er sich ab, um der SPD wieder zum Sieg zu verhelfen.

Ralf Wiegand, Hamburg

Es wird ein guter Abend werden für ihn und die SPD, aber das kann er in diesem Moment noch nicht wissen. Noch sieht Michael Naumann so aus, als hätte er sich in der Tür geirrt. Er steht etwas verlassen neben dem Eingang, an der Seite seiner Frau Marie, Marie Warburg, "eine echte Warburg", wie die Hamburger sagen.

Michael Naumann

Wo er hinkommt, ist Wahlkampf: Michael Naumann will am Sonntag Bürgermeister von Hamburg werden und wirbt um jede Stimme.

(Foto: Foto: dpa)

Die Bankiers-Dynastie, der sie entstammt, hat Geschichte. Marie Warburg verkörpert gut 350 Jahre Hamburg, wenn man so will. Und Michael Naumann ist auch schon seit 38 Jahren immer mal wieder hier. Dass sie deshalb jeden Flecken der Stadt kennen müssen, ist nicht gesagt. "Dass es so etwas hier gibt", brummt Naumann, "habe ich gar nicht gewusst."

Doch, so etwas gibt es hier. Wenn Michael Naumann am Sonntag zum Hamburger Bürgermeister gewählt werden sollte, wird auch dieses Etablissement zu seinem kleinen Reich gehören. Jetzt ist es noch irgendwie Ausland. Der Kandidat der örtlichen SPD für die Bürgerschaftswahl, 66 Jahre alt, den Mantelkragen hochgeschlagen, fremdelt im Hamburger Hofbräuhaus.

Etwas, das klingt, als könnte es Musik sein, erfüllt den Saal. Sierra, Sierra Madre del Sur. Wölkchen von Schweinebratenduft wehen heran, der Dunst von Bier hängt in der Luft. Die Bedienungen tragen so tief ausgeschnittene Dirndl, dass es für jeden Gast eine Prüfung ist, ihnen beim Bestellen in die Augen zu schauen. Und auf den Tischen stehen Töpfchen mit Alpenveilchen und SPD-Fähnchen drin.

Heiser vor der ersten Pointe

So stellt sich der norddeutsche Sozialdemokrat also den politischen Aschermittwoch vor. Das Hamburger Hofbräuhaus liegt an der Esplanade, einer Hotel-Meile in der Mitte der Stadt. Am Abend kommen die internationalen Gäste aus dem Royal Meridien oder dem Atlantic nach gemachten Geschäften auf ein Stück Deutschland ins Lokal, gerne auch vom Schwein, mit Kruste und Knödel. Hier ist das ganze Jahr Oktoberfest, verspricht das Marketing, und das Oktoberfest halten viele außerhalb des Landes für die deutsche Leitkultur. Michael Naumann nicht. Er war mal deutscher Kulturstaatsminister.

Der Mann hätte demnach allen Grund, auf das Wahlkampfmanagement der SPD sauer zu sein. Michael Naumann, der Günter Grass und Jürgen Flimm zu seinen Freunden zählt und jederzeit bei Helmut Schmidt anrufen kann, der mit Harry Rowohlt Limericks um die Wette vom Englischen ins Deutsche übersetzt und daheim Schallplatten hört, sitzt nun im Bühnenbild des Hofbräuhauses, das einem bayerischen Volkstheater nachempfunden ist.

"Die Hiatamadln" haben das Feld nach einem letzten Schlager geräumt, am Pult steht jetzt der Parteivorsitzende Ingo Egloff und versucht, bissig zu sein. Aber er wird noch vor der ersten Pointe heiser. Hinter ihm, am Holztisch vor einem aufgemalten Hütten-Fenster, hockt Michael Naumann im Halbdunkel, neben ihm Henning Voscherau, der Ex-Bürgermeister. Naumann hat ihn erst vor zwei Stunden angerufen, er ist für den erkrankten Umweltminister Sigmar Gabriel eingesprungen. Während Egloff sich bemüht, die SPD nach vorne zu krächzen, muss man für Naumanns Auftritt mit dem Schlimmsten rechnen.

Michael Naumann ist ein weitgereister Mann. Die ideale Stadt, die er regieren will, könnte er sich mühelos aus Stationen seines Lebens zusammenpuzzeln. Etwa Mexico/Missouri, USA, wohin er 1949 als Austauschschüler kam. Elftausend Seelen, "Provinz im schönsten Sinne", sagt Naumann. Dort lernte er Journalismus beim Mexico Evening Ledger und erlebte die Zeit, in der die Schwarzen von der anderen Seite des Bahngleises in die Schule der Weißen gehen durften.

Es herrschte die Aufbruchsstimmung der Integration, "ohne Gewalt, ohne Drogen", schwärmt Naumann, in einer Gemeinschaft, die auf ein paar Pfeilern ruhte: Kirche, Schule, der lokale Radiosender. Die Schwarzen machten das Basketballteam der Schule besser. Als er nach Deutschland zurückkehrte, wurde Naumann jüngster Basketballer in der höchsten Klasse Nordrhein-Westfalens.

Später, da hatte er schon das Dossier der Zeit gegründet, ging er als erster Auslandskorrespondent seines Blattes nach Washington. Der Bürgermeister dort hieß Marion Barry und wurde alsbald in Drogengeschäfte verwickelt. Er wurde trotzdem gewählt oder gerade deswegen.

Der Rosenkavalier

Washington war so, sagt Naumann, das Zentrum der Kriminalität in den USA: "Dort habe ich erlebt, was schiefgegangene Metropolenpolitik bewirken kann." In Carmel-by-the-Sea wiederum, für Naumann der schönste Ort Amerikas, war er Zeuge, wie Schauspieler Clint Eastwood Bürgermeister wurde und die Parkplätze für sein Restaurant bauen konnte, die zuvor nicht genehmigt worden waren.

Naumann lebte in New York, wo er zwei Verlage leitete, als Rudolph Giuliani dort aufräumte. An den Schulen wurden Metalldetektoren eingeführt, um Waffen aufzustöbern. In England wohnte er nahe Oxford in einem Dorf mit der ältesten intakten Grundschule Großbritanniens. Immer geht es ihm um Schulen, um Bildung, sein Thema: "Die ideale Stadt, Utopia, zeichnet sich aus durch die Abwesenheit von Angst. Diese Sicherheit muss das Fundament sein für die Freiheit, die eigenen Fähigkeiten und Talente entfalten zu können. Aufstiegschancen durch Bildung, daran glaube ich."

Seit zehn Monaten schnurrt Michael Naumann mit einem knallroten Golf, von der Partei geleast, durch Hamburg. Wo dieser Wagen steht, ist Wahlkampf, vergangenen Donnerstag etwa im Alster-Pavillon, einem schicken Café am Jungfernstieg. Die SPD hatte Senioren zu Kaffee und Kuchen geladen, es gab Himbeerschnitten und Haftnotizblöcke mit Wahlkampfsprüchen drauf und von Michael Naumann für jede Dame eine Rose, weil Valentinstag war.

Es war schon wieder der dritte Termin an diesem Tag, der Kandidat hielt den Alten eine Vortrag über soziale Gerechtigkeit, wie er es immer tut. Er wetterte wider die Spaltung zwischen reich und arm, privilegiert und vergessen, zwischen satt und hungrig und zwischen gebildet und ungebildet. Naumann tourte schon über Wochenmärkte, durch Kantinen, in Schulen, zu Nachbarschaftstreffen, macht Betriebsbesichtigungen und redete bei zwei Landes- und einem Bundesparteitag.

Er hat sich dafür extra ein paar Rede-Versatzstücke von Gerhard Schröder geklaut, den er so sehr schätzt, dass er seine Segel-Jolle "basta!" getauft hat, nach dem Basta-Kanzler. Schröder preist die SPD stets als Erfinderin von Aufschwung, Frieden, Umweltschutz. "Wir waren es", so beginnt dieser Part. Naumann sagt: "Wir waren es, die in Hamburg den Containerhafen ausgebaut haben", Airbus erweitert, die Hafencity entworfen haben, eben alles, worauf der Wohlstand gründe.

Während Naumann den Seniorinnen Rosen im Akkord verlieh wie Sportpokale - erst die Blume, dann einen Händedruck - staunte hinten im Saal Michael Neumann über die Kondition des Kandidaten. "Wenn ich sehe, was der in seinem Alter für ein Pensum abspult", sagte der Vorsitzende der SPD-Fraktion in der Bürgerschaft, "denke ich mit meinen 37 Jahren manchmal: Puh, heftig."

Ein Notnagel aus Gold

Michael Neumann ist 29 Jahre jünger als Naumann, und anfangs wussten die Leute nicht genau, ob nicht doch er der Kandidat fürs Bürgermeisteramt ist und Naumann nur ein Druckfehler. Obwohl so jung, kennt man Neumann seit mehr als zehn Jahren in der Hamburger Politik, Runde um Runde hat er gedreht im Hamsterrad der Partei. Das war zuletzt sein Problem. Er ist einer jener, deren Namen zur jüngeren Geschichte der Elb-SPD gehören. Es ist eine schlimme Geschichte.

Es höre zum Glück langsam auf, sagt Neumann, dass gefragt werde, wer zum Petersen-Lager und wer zum Stapelfeldt-Lager gehöre. Aus Matthias Petersen und Dorothee Stapelfeldt sollte sich die Parteibasis Anfang vergangenen Jahres den Spitzenkandidaten wählen. Petersen war der Sonnyboy aus Altona, ein Hausarzt, der sich als liebenswerter Polit-Amateur stilisierte und dabei die Partei mit seinen unabgesprochenen Vorschlägen nervte.

Deshalb sollte er sich erstmal gegen Dorothee Stapelfeldt behaupten, die treue Parteisoldatin und routinierte Funktionärin. Die Wahl endete in einer Katastrophe, 954 Stimmzettel verschwanden. Die Berliner SPD-Zentrale schickte Generalsekretär Hubertus Heil nach Hamburg, bis morgens um fünf brannte Licht im Kurt-Schumacher-Haus, damit sie etwas sehen konnten bei der Krisensitzung. Danach waren Stapelfeldt und Petersen Geschichte.

Wer auch immer die Papiere hat verschwinden lassen - die Staatsanwaltschaft hat keinen Täter ermitteln können, die Partei hat nicht gesucht - hat wohl eine vernichtende Niederlage für die SPD verhindert. Petersen oder Stapelfeldt hätten schon mal jene, die sie nicht gewählt hatten, gegen sich gehabt. Und über die Partei hinaus wirkten beide nicht.

Der Rosenkavalier

Es hätte die Fortsetzung der larmoyanten Krise gedroht, in der die Hamburg-SPD steckt, seit sie die Macht 2001 an Ole von Beust und die CDU verloren hat, nach 40 Jahren. Seitdem ist sie mit sich selbst beschäftigt, und es musste schon jemand von außen kommen, um sie von sich abzulenken. Michael Neumann sagt, er erlebe gerade etwas ganz Unerwartetes: "Es ist der beste Wahlkampf, den wir hier seit langer Zeit hatten." Michael Naumann mag ein Notnagel sein. Aber einer aus Gold.

Der Kandidat ist in Berlin erfunden worden. Zunächst hatte es Voscherau machen wollen, aber dann sagte er an einem Montagabend ab. Der jetzige Bundesarbeitsminister Olaf Scholz, einst Vorsitzender der Hamburger SPD, fand die Nachricht auf seinem Schreibtisch, als die Fraktion von einem gemeinsamen Kinobesuch kam. "Die unbequeme Wahrheit" hieß der Film.

Scholz wusste, dass er als Hamburger in die Pflicht genommen werden würde, obwohl er längst einen anderen Karriereplan verfolgte. Scholz rief Naumann an, dessen Name schon mal ein paar Wochen zuvor gefallen war. Wenn die Hamburger Funktionäre ihn akzeptierten, sagte Naumann, würde er es machen. Sie taten es. "Die fressen ihm sogar aus der Hand", sagt ein Präsidiumsmitglied der Bundespartei, "sie haben ja auch keine andere Wahl."

Und nun klatscht Michael Neumann also für Michael Naumann im Keller des Alster-Pavillons Beifall. "Er hat mit diesen Geschichten vom Frühjahr 2007 absolut nichts zu tun, das ist sein großes Plus", sagt der Fraktionschef. Aber eine Geschichte hat Naumann natürlich trotzdem in Hamburg, der Stadt, in der Springer noch die Bild-Zeitung produziert, bis der Verlag demnächst nach Berlin geht.

Naumann hat Bild einmal als Herausgeber der Zeit in einem Artikel "das Geschlechtsteil der deutschen Massenmedien" genannt, und als Strafe dafür haben ihn die Bild-Redakteure monatelang ignoriert. Inzwischen schreiben sie zwar seinen Namen wieder, weil Naumann, der bekennende Achtundsechziger, einen Deal eingegangen war und das Anti-Achtundsechziger-Buch des Bild-Chefredakteurs Kai Diekmann besprochen hat. Aber viel Gutes schreiben sie nicht. Jüngst, beim Kreuzverhör aller Spitzenkandidaten, sei der SPD-Mann mal wieder "arrogant, überheblich und humorlos" gewesen.

Momente des Glücks

Naumann ist es längst leid, gegen das Klischee vom Schöngeist zu kämpfen. Er mag sich nicht dafür entschuldigen, Bücher zu lesen, das Theater zu lieben, Englisch zu können. Und er weiß die Partei auf seiner Seite. "Die SPD war immer eine Aufsteigerpartei", sagt Michael Neumann, "wir können doch nicht jemandem vorwerfen, diesen Aufstieg geschafft zu haben."

Manchmal überzieht Naumann, vergleicht Hamburgs arme Stadtviertel mit dem Gazastreifen und sieht Menschenschlangen vor Suppenküchen wie in der Weimarer Republik. Er ruft im Lokal "pour moi!", wenn der Kellner einen Café au lait auf dem Tablett herbeischaukelt, und er doziert, obwohl nur eine einfache Frage gestellt wurde.

Tatsächlich kann er es anders. Sein Büro in der SPD-Zentrale ist eine Journalistenhöhle vom Feinsten, Bilder stehen auf dem Fußboden, anstatt an der Wand zu hängen, Zeitungen türmen sich in den Regalen, draußen donnern Autos vorbei, kalter Zigarettenrauch hängt in der Luft.

Dann sitzt Naumann, der Schöngeist, in Jeans und Pullover im fahlen Licht der Schreibtischlampe und redigiert am Computer die Interviews, die er selbst gegeben hat, bevor er sie zur Veröffentlichung zulässt. Ihm scheint das alles tatsächlich Spaß zu machen. Die Diskussion, die Politik führen müsse, sagt er, sei diese: "Was ist frei? Was ist gerecht? Was ist Ordnung, was Sicherheit, Frieden?" Wenn man darüber reden könne, gebe es im politischen Geschäft auch Momente des Glücks. Die sucht er.

Und manchmal findet er sie, wo sie nicht zu vermuten waren. Im Hofbräuhaus läuft alles viel besser als befürchtet. Michael Naumann geht zu oft ins Theater, um nicht zu wissen, was man auf der Bühne zu tun hat. Er äfft CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla nach, der ihm geraten hatte: "Der feine Herr soll segeln gehen." Segeln sei keine Schande in dieser Stadt, ruft Naumann, "Sie können gerne mitkommen, Herr Pofalla, als Kielschwein."

Der Saal grölt, und der Reporter der Bild-Zeitung raunt beeindruckt: "Er wird besser." Naumann bleibt schließlich sogar noch eine Stunde länger hier, weil auf einer Großleinwand das Länderspiel Österreich gegen Deutschland übertragen wird. Er schaut interessiert zu, wie die Deutschen schlecht spielen, aber hoch gewinnen. Schließlich wirft er sich den Mantel über, geht zu seinem knallroten Golf und schnurrt zufrieden nach Hause.

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