25 Jahre Super-GAU in Tschernobyl (1):Die Faszination der Katastrophe

Am 26. April 1986 explodierte Block IV des Atomkraftwerks in Tschernobyl. Die Erinnerung an die bisher größte Atomkatastrophe ist abstrakt. Erst nach Fukushima wächst die Erkenntnis, dass diese Art Katastrophe nie vorbei sein wird.

Von Matthias Kolb

"Tschernobyl ist eine Katastrophe, die sich in der Gegenwart ausbreitet und die Zukunft bestimmt. Je weiter der Zeitpunkt des Unglücks zurückliegt, je mehr die Erinnerungen daran verblassen, je mehr Zeugen sterben, desto mehr Anzeichen gibt es für seine Aktualität und für die Gegenwärtigkeit dieser Katastrophe. Gerade diese Zeichen stellen ein Problem für das Gedenken an eine Vergangenheit dar, die nicht vergeht." Guillaume Grandazzi

25 Jahre Tschernobyl

Seit acht Jahren reist Rüdiger Lubricht regelmäßig nach Tschernobyl, um dort zu fotografieren: Teddy und Gasmaske in einem Kindergarten, aufgenommen im Jahr 2003.

(Foto: Rüdiger Lubricht)

Es sind Bilder, die sich einbrennen ins Gehirn. Hausschuhe, die am Eingang eines Zimmers zurückgelassen wurden, und in die gleich jemand hineinschlüpfen könnte. Ein Fotoalbum, das auf den Boden gefallen ist, aufeinander gestapelte Müllsäcke, die auf ihren Abtransport warten. Ein Auto in der Garage, das nie losfahren wird, obwohl es vollgepackt ist und auf dem Dach sogar die Matratze angebracht ist. Doch auf den Straßen fahren keine Autos, es laufen nur Männer in weißen Schutzanzügen herum.

Die Aufnahmen des AP-Fotografen David Guttenfelder aus der japanischen Stadt Minamisoma sind von gespenstischer Schönheit. Minamisoma liegt in der Sperrzone um das Atomkraftwerk Fukushima-1 und ist so stark radioaktiv belastet, dass die meisten Bewohner nie mehr zurückkehren dürfen. Die Bilder erinnern an jene aus der ukrainischen Geisterstadt Pripjat, in der die Arbeiter und Ingenieure wohnten, die im "Tschernobyler Atomkraftwerk W. I. Lenin" tätig waren. Verlassene Wohnungen, verwitterte Schulbücher in den Klassenzimmern, ein ausgetrocknetes Schwimmbecken sowie das zur Ikone gewordene Riesenrad des Vergnügungsparks, der am 1. Mai 1986 eröffnet werden sollte - wenn nicht fünf Tage zuvor der Block IV explodiert wäre.

Diese Bilder gehören zum kollektiven Gedächtnis der Menschheit und haben ebenso wenig an Eindringlichkeit verloren wie die Berichte der Liquidatoren oder die Aussagen von Zeitzeugen wie Igor Kostin, der im Interview mit sueddeutsche.de über seine Arbeit als Fotograf sprach: "Es widert mich an, dass unser Land nicht in einer menschlichen Weise mit den Überlebenden umgeht. Mit denen, die praktisch mit ihren Händen viele Völker gerettet haben. Vor allem die, die auf dem Dach gearbeitet haben."

Ritualisiertes Gedenken

Dennoch verdrängte gerade die westliche Welt bis zum 12. März 2011, als der Super-GAU in Fukushima passierte, diese Katastrophe: Der Unfall sei auf die Schlamperei in der Sowjetunion zurückzuführen. Dieses unter anderem vom damaligen bayrischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß vorgebrachte Argument war ebenso bequem und einfach wie falsch: Bereits vor Fukushima gab es etwa im schwedischen Forsmark-Reaktor oder im norddeutschen Krümmel viele ernstzunehmende Zwischenfälle, die allerdings nur kurzzeitig für mediale Aufmerksamkeit sorgten.

Mit ähnlich ritualisierter Routine erinnerte sich die Gesellschaft jährlich am 26. April an die Katastrophe von Tschernobyl - und wandte sich dann anderen Dingen zu. Dabei waren die Risiken und möglichen Auswirkungen auf Körper und Seele der Menschen bekannt, wie sie etwa die weißrussische Autorin Swetlana Alexijewitsch in ihrer "Chronik der Zukunft", einer Sammlung von Augenzeugenberichten, beschrieben hat. Das 270 Seiten starke Sonderheft der Zeitschrift Osteuropa, das zum 20. Jahrestag erschien, thematisierte schon 2006 viele jener Fragen, die nach Fukushima akut wurden. Wer es wollte, der konnte viel wissen.

Mechanismen außer Kraft gesetzt

Der französische Soziologe Guillaume Grandazzi sieht einen Grund für diesen Umgang mit Tschernobyl darin, dass die gängigen Bewältigungsmechanismen außer Kraft gesetzt werden. Anders als nach einem Krieg oder nach dem Holocaust sei der Appell "Nie wieder!" wertlos, denn es gehe nicht darum, ein vom Krieg oder einer Tsunami-Welle zerstörtes Land wiederaufzubauen.

Grandazzi schrieb bereits 2006 in einem Beitrag mit dem Titel "Die Zukunft erinnern": "Im Gegensatz zu den Katastrophenerfahrungen der Vergangenheit gab es im Falle Tschernobyls für die meisten Opfer der radioaktiven Kontamination - mit Ausnahme des Betriebspersonals des Atomkraftwerks, der Feuerwehrleute und der Anwohner, die direkte Zeugen des Unfalls waren - kein kausal erlebbares, ursprüngliches Ereignis. Tschernobyl hat das Wesen der Katastrophe verändert: Es gibt kein Schlachtfeld, keine zerstörten Städte, doch eine für immer erstarrte Stadt, Pripjat, und einen Krieg ohne Feind, in dem die 'Helden' - etwa 800.000 sogenannte Liquidatoren - zugleich die Besiegten waren."

sueddeutsche.de wird in dieser Woche in einer Serie an jenen Tag erinnern, der die Welt verändert hat. Dabei soll an die 800.000 Liquidatoren aus allen Teilen der Sowjetunion erinnert werden, die ihr Leben riskierten und deren Leistung von den Regierungen in Moskau, Kiew und Minsk ebenso wenig honoriert wird wie vom Westen. Der Fotograf Rüdiger Lubricht berichtet im Rahmen der Serie von seinem Langzeitprojekt, für das er mehrere Jahre in die Sperrzonen gereist ist.

Eine Reportage schildert ein Phänomen, das Kritiker als "Katastrophentourismus" abtun: Mehrere Reiseveranstalter bieten Tagesausflüge in die Todeszone von Tschernobyl an, also in jenes Gebiet, in dem die Folgen der atomaren Katastrophe so deutlich zu sehen sind wie nirgendwo sonst. Dort stehen die Besucher auch vor dem Sarkophag, den sowjetische Arbeiter als Provisorium zwischen Mai und November 1986 zusammenzimmerten. Nun soll ein neuer Sarkophag gebaut werden, der die Strahlen für die nächsten hundert Jahre fernhält - was in den folgenden 20.000 Jahren geschieht, bleibt den Enkeln und Urenkeln überlassen. Ob im japanischen Fukushima-Daiichi ebenfalls eine solche Betonhülle gebaut werden muss, ist bislang nicht abzusehen.

Zudem berichten Prominente wie etwa Christoph Well von der Biermösl Blosn, die Publizistin Beatrice von Weizsäcker, der Prinzen-Sänger Sebastian Krumbiegel und die Schriftstellerin Gudrun Pausewang ("Die Wolke"), wie sie sich an den 26. April 1986 erinnern. Und natürlich werden die User von sueddeutsche.de ausreichend Gelegenheit haben, ihre Erfahrungen und Gedanken zur Katastrophe von Tschernobyl zu schildern und darüber zu diskutieren, welche Lehren daraus zu ziehen sind.

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