Idole in der Gesellschaft:Sehnsucht nach Vorbildern

Die Deutschen haben allerlei Idole. Viele Helden allerdings sind alt oder tot - das zeigt die Probleme einer Gesellschaft, die gleichzeitig Vorbilder sucht und Vorbilder stürzt.

Matthias Drobinski

In Siegfried Lenz' Roman "Das Vorbild" treffen sich drei Menschen in einer Pension: ein pensionierter Schuldirektor, ein junger Studienrat, eine Lektorin. Sie sollen ein Lesebuch für Deutschlands Schüler zusammenstellen, das funktioniert zuerst ganz gut, beim Kapitel "Lebensbilder - Vorbilder" aber geraten sie in Schwierigkeiten. "Wir suchen ein Vorbild; ein Idol! Jemanden, der sich so beispielhaft betragen hat, dass er in vielen den Wunsch weckt, ihm nachzueifern" - das droht zur mission impossible zu werden.

Die drei einigen sich nach langen Diskussionen auf die Biologin Lucy Beerbaum. Als in Griechenland das Militär putschte, trat sie aus Solidarität mit den Opfern in den Hungerstreik - und starb. Doch mit dieser Idee scheitern sie am Verleger, der will kein Vorbild, das so gestorben ist. "Es ist ein privater Protest", sagt der Verleger Doktor Dunkhase, "eine Auflehnung in Demut. Wir brauchen Vorbilder, die handeln." Die Suche nach dem lesebuchfähigen Idol scheitert.

Sehnsucht nach Orientierungsmenschen

Der Roman ist eine Geschichte über das gebrochen Bewundernswerte. Auch die Hauptpersonen sind Vorbilder und Scheiternde in einem. Der autoritäre Ex-Direktor demütigte einst Schüler, schreitet aber mutig ein, als ein älteres Paar von Jugendlichen bedroht wird. Der junge Lehrer demonstriert für eine bessere Welt, bis seine Ehe scheitert. Geschrieben hat Lenz die Geschichte 1973, als die Achtundsechziger lustvoll die alten Vorbilder zerstörten und gleichzeitig neue schufen. Sie könnte aber auch für diese Wochen geschrieben sein, in denen die Vorbilder stürzen und zerbrechen, ohne dass die Sehnsucht nach Orientierungsmenschen geringer geworden wäre.

Margot Käßmann, die Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, war so ein Orientierungsmensch - nach ihrer Alkoholfahrt trat sie zurück. Wer unter den katholischen Priestern und Ordensleuten zum Vorbild taugt, steht derzeit im Schatten des Missbrauchsskandals; das Bild von Hartmut von Hentig, dem großen Pädagogen, trägt tiefe Kratzer. Es ist überhaupt einer der langfristigen Schäden der körperlichen und sexuellen Gewalt gegen Kinder und Jugendliche, dass das Vorbildhafte der Pädagogik in Frage steht, dass Lehrer, Pfarrer, Erzieher nicht als Menschen wahrgenommen werden, die Kindern Orientierung geben, sondern als Gefahr für Körper und Seele.

Die zwei Körper des Helden

Doch während die Vorbilder wanken und stürzen, wird Alt-Kanzler Helmut Schmidt als Heroe gefeiert; einst galt er als Technokrat, heute muss der 91-Jährige nur an der Zigarette ziehen, und das Publikum raunt in Ehrfurcht. Ex-Bundespräsident Richard von Weizsäcker, der am 15. April 90 Jahre alt wird, schlägt die gleiche Verehrung entgegen.

Vor fünf Jahren löste der Tod von Papst Johannes Paul II. die größte Wallfahrt der Geschichte aus. Und als der Stern vor Jahren fragen ließ, wer der Deutschen Vorbilder seien, da standen Mutter Teresa und Nelson Mandela oben, Michail Gorbatschow, Albert Schweitzer, Mahatma Gandhi und Martin Luther King. Es gibt Vorbilder, nur sind sie alt oder tot; lediglich den alterslosen Günther Jauch wählten die Leute auf Platz elf.

Alt oder tot - das zeigt die Probleme einer Gesellschaft, die gleichzeitig Vorbilder sucht und Vorbilder stürzt. Das Mittelalter, so hat es der Historiker Ernst Kantorowicz formuliert, schrieb dem König zwei Körper zu, einen physischen und einen metaphysischen. In seiner weltlichen Existenz konnte der König abscheuliche Verbrechen begehen - die metaphysische, verehrungswürdige Gestalt blieb davon unberührt. Heute sind die reale Existenz und das verehrungswürdige Bild von einem Menschen untrennbar. Und damit beginnen die Probleme - bei denen, die Orientierung bieten, und bei denen, die Orientierung suchen. Es gibt ungewöhnliche Menschen, die Bewundernswertes und Erstrebenswertes tun, aber es gibt keinen perfekten Menschen. Alle lebenden Denkmäler stehen auf wackeligen Füßen.

Alt oder tot

Deshalb orientieren sich die Leute an den Toten oder den Alten, bei denen sich physischer und metaphysischer Leib zu trennen beginnen. Oder sie schaffen sich Idole, Bilder von Menschen, in rascher werdender Folge: Schauspielerinnen, Sänger, Sportler; Lady Gaga, Cristiano Ronaldo, das beispielhafte Anti-Vorbild Paris Hilton. Sie sind Projektionsflächen, kaufbare Träume, und es ist nicht so schlimm, wenn sie scheitern. Die Fangemeinde trauert dann eine Weile und sucht sich das nächste Bild vom idealen, besseren, lebenswerten Leben, sucht sich den nächsten Sehnsuchtsmenschen.

Man kann dies kulturkritisch interpretieren: Die Postmoderne frisst alle Vorbilder, mit dem Autoritären sind auch die Autoritäten gestürzt, die linken wie die konservativen. Wer glaubt, Orientierung geben zu müssen, zerbröselt unter der Last der eigenen Unvollkommenheit; wer Menschen sucht, die ihm Halt und Ziel geben, muss mit Substraten leben. Und wer das Ganze durchschaut, dem bleibt der Zynismus. Man kann es aber auch anders sehen: Es ist gar nicht schlecht, dass es keine reinglänzenden Helden mehr gibt, die Vorbilder fehlbar sind und die Idole nur begrenzt haltbar.

Mama, Papa, Freunde

Als der Stern nach den Vorbildern fragte, hieß die meistgegebene Antwort: Mama. Und auf den dritten Platz, verdrängt nur durch Mutter Teresa, kam: Papa. Die Eltern sind die Vorbilder der Deutschen, diese fehlbaren Menschen, die ihren Kindern die eigenen Neurosen mit auf den Weg geben - und all ihre Liebe. Die Eltern sind die Urform des gebrochenen Vorbilds, in der ewigen Auseinandersetzung um Bindung und Lösung, Verehrung und Kritik. Und wenn einer aufmerksam und offen durchs Leben geht, dann findet er begrenzte und gebrochene Vorbilder: Freunde, Mitschüler, Arbeitskollegen; Menschen, die in irgendeinem Augenblick etwas Ungewöhnliches, unerhört Gutes tun, die ihr Leben in die Hand nehmen. Ob sie als Entwicklungshelfer nach Afrika gehen und ihr Leben auf den Kopf stellen, oder ob sie einfach einem weinenden Kind das Richtige sagen, das ist dabei egal.

In Siegfried Lenz' Erzählung spielt auch der Sohn des pensionierten Direktors eine Rolle. Der Junge hat ein Vorbild, einen Freund, der Rockmusiker ist. Ein Vorbild, das ihm nicht helfen kann - der Junge bringt sich um. Doch zuvor schreibt er einen Abschiedsbrief an ihn: ,,Bevor ich Dich kannte, tat ich etwas meist nur aus Gelegenheit; in der Zeit mit Dir handelte ich aus Überzeugung. Von Dir lernte ich, dass nicht etwas Beliebiges zu tun sei, sondern systematisch das, was wir uns selbst schuldig sind.''

Nicht das Beliebige tun, sondern was man sich selber schuldet, seinem Glauben und Gewissen - dafür sind Vorbilder da. Darin liegt ihr unersetzlicher Wert. Dafür braucht man sie. Sie sollen nicht in der Aura des Unverletzlichen für alles Gute in der Welt stehen müssen, für die Richtigkeit einer politischen, philosophischen, religiösen Überzeugung, zum Lob einer Institution. Vorbilder sollen fehlbare Helden sein, gebrochene Idole, verwundete Helfer. Von denen gibt es viel mehr als man denkt.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: