FDP-Wahldesaster:"Der Liberalismus muss neu gedacht werden"

Schlimmer hätte es für die FDP nicht kommen können. Brüderle und Rösler können keinesfalls bleiben. Nur ein Liberaler wirkt gefasst - Christian Lindner spricht schon mal über Visionen für seine Partei.

Von Stefan Braun, Berlin

Jetzt ist der Fall eingetreten. Sie müssen zittern, sogar furchtbar zittern bei den Liberalen. Nicht nur um die Fortsetzung der Regierung. Selbst um den Einzug ins Parlament. Furchtbar knapp ist es, sagen die Umfrageinstitute in ihren ersten Hochrechnungen. Und auch bei den zweiten und dritten wird es nicht besser. Schlimmer hätte es für die FDP nicht kommen können.

Sollte Wahrheit werden, was die Liberalen fürchten müssen, dann könnte an diesem Abend eine Partei aus dem Bundestag fliegen, die dieses Land 46 Jahre regiert hat. Ein Parlament ohne Liberale - das hätte es seit Gründung der Bundesrepublik nicht gegeben.

Natürlich will auch Rainer Brüderle, der Spitzenkandidat, noch nicht aufgeben. Noch nicht ganz jedenfalls. Irgendwie will er an den ganz dünnen Strohhalm glauben, der bis zum Endergebnis vielleicht doch noch eine Wende bringen könnte. Aber wie er da auf der Bühne steht um viertel vor sieben, spürt jeder, dass hier eine Ära endet. Der 68-Jährige steht da oben erschöpft und ausgezählt. Er spricht von einem sehr schwierigen Abend und von der schwierigsten Stunde der Freien Demokraten. Und er sagt: "Wir werden dafür sorgen müssen, dass die Stimme der Freiheit auch zukünftig eine Stimme findet."

Man kann fast verstehen, dass ihm, der vor wenigen Wochen sein 40.-Jahr-Jubiläum in der FDP begehen konnte, die Worte jetzt ausgehen. Nur eines sagt er dann doch noch ganz selbstverständlich: dass er als Spitzenkandidat für dieses Ergebnis Verantwortung übernehme.

Rösler gratuliert Merkel und der SPD

Rechts von ihm steht die ganze Zeit eine versteinerte Sabine-Leutheusser-Schnarrenberger, links von ihm wartet ein Parteichef Philipp Rösler, der im ganzen Ernst der Lage um einen Rest von Stolz bemüht ist. Sicher, verloren haben sie beide. Aber jetzt, in dieser Sekunde, spürt man, dass er, der Jüngere, der Brüderles Sohn sein könnte, mehr Kraft hat.

Was vielleicht daran liegt, dass er sich eher auf diese Niederlage eingestellt hat. Jedenfalls wirkt er gefasster, entschlossener, als er nach Brüderle im Saal des Berliner Congress Centers ans Pult tritt. Er nämlich gratuliert nicht nur Angela Merkel zum Wahlsieg. Er gratuliert auch der SPD, die in schwierigen Zeiten nie aufgegeben habe.

Man steht da und staunt kurz - bis Rösler sagt, was er damit sagen möchte: Wie die SPD werde auch die FDP wieder aufstehen. Aufstehen aus Ruinen - könnte man hinzufügen. "Es ist die bitterste, die traurigste Stunde in der Geschichte dieser freiheitlichen demokratischen Partei", sagt Rösler dann.

Und er räumt ein, dass das auch auf ihn zurückgeht. "Mir ist es am Ende nicht gelungen, einen Aufbruch zu erzeugen." Deshalb werde er "persönlich Verantwortung übernehmen". Es ist noch nicht 19 Uhr - und die Partei weiß schon, dass Brüderle und Rösler nicht mehr bleiben werden. Noch sagen sie das nicht explizit. Aber es gibt daran keinen wirklichen Zweifel.

Es fließen auch Tränen

Und denen, die sich hier inzwischen versammelt haben, ringt das Respekt ab. Ihnen steht das Entsetzen ins Gesicht geschrieben, als ARD und ZDF die FDP unter der Fünf-Prozent-Hürde taxieren. Das ist mehr als verständlich. Denn jene, die jetzt, pünktlich um 18 Uhr, auf die Bildschirme starren, sind ja nicht nur FDP-Fans.

Viele von ihnen hängen persönlich an diesem Ergebnis. Als Mitarbeiter, Berater, Verwandte ist auch ihre Zukunft mit jener der Partei eng verbunden. Und nicht wenige kämpfen dabei schon viel länger an der Seite dieser Partei als die allermeisten in der heutigen Führung. Sie haben viele sogenannte Spitzenpolitiker kommen und gehen sehen, aber einer so derart nervenaufreibenden Anspannung sind sie selten ausgesetzt gewesen. Umso leiser, gedrückter, erschlagener zeigen sie sich in ihren ersten Reaktionen. Ja, es fließen auch Tränen.

Was da jetzt hochkommt, passt so sehr zu diesen letzten Tagen, diesem Wochenende, diesem Sonntag. Selten, vielleicht noch nie ist den Liberalen in Deutschland die Unsicherheit so sehr in alle Knochen gekrochen. Selbst ausgebuffte Optimisten unter ihnen, die den Job des Schönredens bei der FDP schon lange machen, sind am Morgen dieses 22. September unsicher aus den Betten gestiegen. Sie alle mussten zuletzt begreifen, dass auch das Schlimmste nicht mehr unmöglich war.

Einer, der schon sehr lange mit dabei ist, sagt dazu noch am Sonntagmittag: "Es ist völlig ungewiss, ob es zu einer Beerdigung kommt oder zu einer Liebesheirat." Das mit der Liebesheirat, so scheint es, hat sich erledigt. Auch wenn man zu diesem frühen Zeitpunkt am Abend nichts gänzlich ausschließen sollte. Und doch: Jetzt droht den Liberalen das, was man eine politische Beerdigung nennen müsste. Sie droht der Partei im Parlament und den Spitzen in der Führung.

Durch die Seiteneingänge reingeschlichen

Seit 16:30 Uhr ist das erweiterte Präsidium hier in einem Nebenraum zusammengekommen. Ohne ein Wort zu sagen, sind sie durch die Seiteneingänge reingeschlichen, der Parteichef mit seiner Frau, aber auch viele derer, die zuletzt zwar still waren, ihn aber schon im Januar stürzen wollten.

Man ahnt, was da jetzt aufeinanderprallen wird. Noch dringt nichts nach draußen. Aber die Kälte damals ist bis heute keiner Wärme gewichen. Es gehört nicht viel Phantasie dazu, um zu wissen, dass die schärfsten Kritiker sich jetzt besonders scharf bestätigt fühlen.

Und das Verrückte ist: Wenn es so kommen sollte, wie es sich jetzt in den Hochrechnungen mehr als nur andeutet, wird ihnen das auch nichts mehr helfen. Sie werden sich wortwörtlich neue Jobs suchen müssen. Sie werden ein neues Leben beginnen, werden Hoffnungen begraben müssen. Als Rösler noch redet und zum Abschluss zum Kampf für die Zukunft aufruft, stehen die allermeisten direkt daneben. Sie klatschen lau, sie schwanken zwischen Zorn und Enttäuschung. Und sie warten nur darauf, dass sie diesen Ort verlassen dürfen.

Gefährliche Zweitstimmenkampagne

Sicher, die meisten, die man in den Stunden vor Schließung der Wahllokale erreichte, hofften natürlich weiter auf fünf bis sechs Prozent. Das, so hieß es dann immer, hätten auch die sogenannten Rohdaten der Umfrageinstitute zuletzt ergeben. Und dann wäre die FDP wieder da gewesen, wo sie sich auch in den Sommermonaten wähnte, weil in den friedlichen Zeiten dieses Wahlkampfs die Umfragen recht stabil über der Fünf-Prozent-Hürde wirkten. Deswegen konnten Parteichef Rösler und Spitzenkandidat Brüderle auch lange jede größere interne Debatte über ihre Strategie verhindern. Aber was sind schon Umfragen? Anhaltspunkte, mehr nicht. Sie zählen wenig in dem Bereich zwischen 4,8 und 5,2.

Und eines ist gewiss: Was lange auf ein einigermaßen achtbares Ergebnis hinauslief, drehte sich in der vergangenen Woche. Unmerklich erst, aber dann deutlich. Auf einmal setzte sich ein banges Gefühl durch: Es wird höchst gefährlich. Denn plötzlich dominierte die Zweitstimmenkampagne alles. Was hier allein schon deshalb so vielen Angst machte, weil die Röslers, Lindners und Bahrs in den Neunzigerjahren in die Partei gekommen waren, um genau das nicht noch einmal erleben zu müssen. "Dieses Sich-Kleinmachen, dieses Sich-Reduzieren", so sagt es ein Spitzenliberaler am Sonntag, "haben wir 1994 gehasst. Umso mehr trifft es uns heute."

Ob die Parteispitze es bewusst ignorierte oder in der Unruhe der letzten Tage gar nicht mehr merkte: Philipp Rösler selbst war es, der nach seiner Wahl 2011 erklärt hatte, er habe sich damals mit vielen Freunden geschworen, dass sich so etwas niemals mehr wiederholen dürfe. Wie lange scheint das schon zurückzuliegen. Denn jetzt, in der Not des Sommers 2013, ist es doch wieder genau so gekommen.

Mancher Kritiker verweist am Sonntagabend schon vehement darauf, dass die Ausgangslage für diese "Ich-erbitte-Zweitstimmen-Kampagne" 2013 von Anfang an viel schlechter gewesen sei als vor zwanzig Jahren. Zum einen, weil es damals in der Wahlbevölkerung wenig Unterstützung für eine große Koalition gegeben habe - ganz im Gegensatz zu heute. Zum anderen gebe es zumindest in der CDU selbst heute manchen, der gerne mit den Sozialdemokraten koalieren möchte - lieber als mit den Liberalen. "Gerade deshalb ist diese Zweitstimmenkampagne so gefährlich geworden", klagt einer, der vor zwanzig Jahren schon mit dabei war.

Er hat es mittags gesagt. Am Abend zeigt sich: Er hat recht behalten.

"Die Idee des politischen Liberalismus muss neu gedacht werden"

Einer freilich wirkt sehr gefasst an diesem Abend. Und man kann ihm das eigentlich nicht verdenken. Der Mann heißt Christian Lindner. Und er ist mit der erste, der sich den Kameras stellt. Vielleicht sogar stellen möchte. Jedenfalls ist es der Chef des größten Landesverbandes, der noch vor den beiden Geschlagenen auftritt.

Die FDP habe die hohen Erwartungen an den politischen Liberalismus nicht erfüllt, sagt Lindner, nicht in der Kompetenz, nicht im Stil, nicht in der Verkörperung der zentralen Anliegen. Nein, nein, er wolle der Debatte, die jetzt komme, nicht vorgreifen. Aber: "Im Grunde muss die Idee des politischen Liberalismus neu gedacht werden." Denn: "Deutschland braucht eine liberale Partei, wie es die FDP traditionell war."

War - hat er gesagt. Das sagt an diesem Abend alles.

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