Essayist John Jeremiah Sullivan:"Die Republikaner kämpfen ums Überleben"

Essayist John Jeremiah Sullivan

Er gilt als einer der besten jungen Autoren Amerikas: Essayist John Jeremiah Sullivan.

(Foto: Stefan Klüter/Suhrkamp Verlag)

Er gilt als einer der besten jungen Autoren Amerikas, spürt in seinen Essays den Befindlichkeiten seiner Landsleute nach. Doch über die Spardiktat-Krise kann auch John Jeremiah Sullivan nur den Kopf schütteln. Die US-Gesellschaft sei zutiefst verunsichert, doch der neue Obama gefällt ihm. Ein Treffen im Zentrum der Krise.

Von Matthias Kolb, Norfolk, Virginia

Es ist eine schaurig-schöne Szene: Im Sonnenuntergang fliegen zwei schwarze Hubschrauber auf einen Flugzeugträger in Norfolk zu. Hier unterhält die US-Marine ihren größten Stützpunkt, hier werden die Menschen die Kürzungen spüren. Und hierher hat die Old Dominion University John Jeremiah Sullivan geladen. Er soll über seine Arbeit reden. Doch vielmehr als das beschäftigt den gefeierten Essayisten das feindselige Klima der US-Politik: Seine Landsleute seien zutiefst verunsichert. Das präge die Debatten um Einwanderung, Waffengewalt oder Schuldenkrise.

Die Frage, wie er den Deutschen den Streit um den "Sequester", die automatischen Haushaltskürzungen, erklären würde, kontert Sullivan dann auch mit einem Lachen: "Das kann ich nicht. Da muss ich passen." Wie viele seiner Landsleute habe er mittlerweile den Überblick verloren, wann die eine von den Washingtoner Politikern selbst gemachte Krise aufhöre und die nächste beginne. Es sei eine "Farce", die da zwischen Präsident Barack Obama und dem Republikaner John Boehner, dem Sprecher des Repräsentantenhauses, ausgetragen werde, meint Sullivan beim Interview in seinem Hotelzimmer.

Die New York Times adelte den 38-Jährigen als "einen der besten Autoren von non-fiction". Sullivan hat einen eigenen Ansatz: Er schreibt oft in der Ich-Perspektive und hat das Privileg, monatelang zu einem Thema recherchieren zu können. 2009 beschäftigte er sich in einem seiner für deutsche Verhältnisse außergewöhnlich langen Essays mit der Tea-Party-Bewegung und begleitete Dutzende Aktivisten. Amerikas Konservative befänden sich in einer schwierigen Situation: "Wenn man dieses Schauspiel verfolgt, dann hat man den Eindruck, dass die Republikaner ums Überleben kämpfen. Sie wollen keinen Steuererhöhungen zustimmen, um ihre Anhänger nicht zu enttäuschen."

Getrieben von dieser Angst seien die Republikaner bereit, einen Einbruch der US-Wirtschaft zu riskieren und den Verlust vieler Jobs hinzunehmen. Eigentlich gehe es bei der aktuellen Diskussion ums große Ganze: "Die Zukunft der Parteien steht auf dem Spiel: Einige Demokraten denken, dass sie den konservativen Gegner zerstören können, wenn sie das Thema weiter forcieren. In Umfragen sieht es nicht gut aus für die Republikaner, sie gelten weiter als Partei der Reichen und der Weißen."

Die amerikanische Demokratie braucht die Rivalität

Sullivan, der in North Carolina lebt und so genug Abstand zum manchmal inzestuösen Polit- und Medienzirkus in Washington hat, begrüßt es, dass sich mehr Republikaner um eine Reform des Einwanderungsrechts bemühen - und sei es aus Eigeninteresse. Seine Beobachtung: "Die Konservativen suchen eine neue Botschaft, die sie nicht total von jener jungen Generation entfremdet, die nun heranwächst und stark mit den Demokraten sympathisiert. Dass es nun so viele Latinos in der Gesellschaft gibt, ist ja etwas ganz Neues für uns Amerikaner."

Doch der Autor, dessen Texte im New York Times Magazine, bei Harper's Magazine und in der Paris Review erscheinen, hat den Eindruck, dass es sich viele Republikaner zu einfach machen: "Selbst wenn sie sich bei der Einwanderung bewegen, werden die Latinos nicht in Scharen zu ihnen kommen. Obamacare ist äußerst beliebt bei Latinos, zugleich sind viele sehr religiös, was den Konservativen nutzen sollte. Wir rätseln, wie die Latinos mittelfristig wählen werden. Konkret lautet die Frage: Wird ihnen ihre ethnische Solidarität wichtiger sein als persönliche Interessen?"

Allerdings warnt er davor, die Republikaner zu schnell abzuschreiben: Die Republikaner seien "noch immer sehr mächtig" und die amerikanische Demokratie würde ohne die Rivalität der beiden Parteien gar nicht funktionieren. Doch das vergiftete Klima in der Hauptstadt Washington, das über die Kabelsender Fox News und MSNBC sowie das Talkradio ins ganze Land herausgetragen werde, setze der Psyche seiner Landsleute zu: "Vielen Amerikanern kommt es so vor, als seien sie in einem Flugzeug über dem Atlantik und sie stellen fest, dass der Pilot verrückt geworden ist. Beide Parteien überlegen, was sie in dieser Situation machen sollen. Dies ist alles andere als angenehm."

Wie wahr: Die beiden Parteien und ihre Anhänger scheinen weit davon entfernt, sich anzunähern. Dabei, so Sullivan täusche der Eindruck, dass die amerikanische Gesellschaft durch und durch politisiert sei. "Ich war neulich auf Kuba, um für eine Reportage zu recherchieren und dachte, jeder Aspekt des Lebens dort müsse politisch aufgeladen sein. Stattdessen hatte ich den Eindruck, dass die Leute ihren Weg finden und wie alle anderen versuchen, glücklich zu werden."

Sullivan sieht in der Krise eine Chance

Ähnlich sei es in den USA: Viele seiner Landsleute würden es tunlichst vermeiden, über Politik zu sprechen. Er könne jeden verstehen, der dies so handhabe, meint Sullivan: "Vor vier Monaten war ich in Norwegen und saß beim Rückflug neben einer Frau aus Texas. Es fing nett an, wir stellten fest, dass wir beide Verbindungen nach Tennessee haben. Plötzlich fragte sie: 'Eigentlich will ich es nicht wissen, aber wo stehen Sie politisch?' Sofort krümmte sich mein Magen zusammen."

Die Frau erzählte ihm, wie sehr sie den "Sozialisten Obama" fürchte, der Geschäftsleuten den Krieg erklärt habe und dass sie auf einer Ranch lebe. Da ihr Mann oft beruflich unterwegs sei, habe sie natürlich ein Gewehr. "Dann sagte sie: 'Ich werde Sie nicht anlügen. Wenn ein Einbrecher kommt, dann werde ich ihm ins Gesicht schießen.' Sie hat das genau so gesagt 'ins Gesicht schießen'. Jeder Amerikaner, egal wo er politisch steht, macht diese Erfahrungen und schweigt einfach irgendwann. Es wird zu deprimierend."

Wie alle Amerikaner hat das Massaker an der Grundschule in Newtown Sullivan als Vater zweier Töchter sehr bewegt. "Ich glaube, dass wir jetzt die Chance haben, strengere Gesetze durchzusetzen und mehr Kontrollen durchzuführen. Aber leider ändert Newtown trotzdem nichts daran, dass Waffen in Amerika allgegenwärtig sind." Zurzeit passiere etwas Seltsames, berichtet Sullivan: Seit Newtown haben mehr Leute Waffen gekauft als vorher - und darunter besonders viele Frauen.

An einem Tag, kurz nach dem Amoklauf in Newtown, habe er die Zeitung aufgeschlagen, erinnert er sich: "Auf der Titelseite stand: 'Die Waffenlobby NRA ist am Ende'. Als ich umblätterte, stand dort ein Bericht über die gestiegene Popularität von Pistolen und Gewehren. Das ist ein Beispiel dafür, wie schizophren die amerikanische Politik manchmal ist: Wir schreien gern eine Parole sehr laut heraus - und machen dann aber das genaue Gegenteil."

Man müsse abwarten, was Obama umsetzen könne

Auch wenn die Politik in den USA immer öfter absurd wirkt und schizophrene Züge annimmt, ist Sullivan keineswegs dauerpessimistisch. Zwar sieht er sein Land auf einer quälenden Suche nach Identität, doch in jeder Krise stecke eine Chance. Und auch wenn nach Obamas erster Amtszeit alle etwas ernüchtert seien, weil er "doch nicht so friedliebend" wie erhofft und zu einem gewissen Grad von den großen Unternehmen abhängig" sei, setzt Sullivan Hoffnungen auf den Demokraten.

Der Essayist nennt vor allem zwei Gründe: "Es war schwer, nicht zutiefst davon bewegt zu sein, einen schwarzen Präsident dabei zu beobachten, wie er sich bei der Amtseinführung für die Gleichberechtigung von Homosexuellen aussprach. Ich hatte das Gefühl, dass es eine historische Dummheit wäre, in diesem Moment zu zynisch zu sein. Die zweite wichtige Sache ist, dass der Präsident nun über Klimawandel spricht. Er erkennt, dass er sich um diese drängenden Fragen kümmern und seinen Einfluss geltend machen muss. Obama spricht nun selbstbewusst darüber."

Doch natürlich, so sagt Sullivan nachdenklich, müsse man abwarten, was Obama konkret umsetzen könne. Und momentan könne niemand sagen, was im vergifteten politischen Klima in Washington möglich sei. Sullivan, der Chronist der amerikanischen Befindlichkeiten, wird weiterhin sehr genau hinschauen.

Linktipps: Ein Auszug aus dem Interview mit John Jeremiah Sullivan ist hier nachzuhören. Eine ausführliche Kritik von Sullivans aktuellem Buch "Pulphead" erschien im Herbst in der Süddeutschen Zeitung. Sullivans schlichtweg grandiose Reportage über die Anfangszeit der Tea-Party-Bewegung erschien 2010 in GQ.

Der Autor twittert unter @matikolb.

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