Eskalation in Libyen:Alle Gewalt geht vom Diktator aus

Die Opposition soll Teile des Ostens kontrollieren, an der Grenze zu Ägypten sprechen sie bereits von einem "freien Libyen". In Tripolis ist davon nichts zu sehen - Gaddafi zeigt sich wild entschlossen, seine Herrschaft zu verteidigen.

Wolfgang Jaschensky

"Welcome to free Libya", ist der erste Satz, den Ben Wedeman gehört hat, als er mit seinem Jeep die Grenze von Ägypten aus überquert hat. Wedeman ist im Auftrag von CNN ins Land gereist. Als erster westlicher Fernsehreporter ist er am Montag in Libyen angekommen. Wedeman berichtet davon, dass Geschäfte geöffnet sind und das Mobilfunknetz funktioniert. Seine Schilderungen nähren die Vermutung, dass die Opposition weite Teile des Ostens unter Kontrolle hat.

Doch auch er kann nur vom Hörensagen berichten, dass Kampfflugzeuge in Tripolis auf Demonstranten geschossen hätten. Denn anders als bei den Revolten in Tunesien und Ägypten sind kaum Journalisten oder unabhängige Beobachter im Land, die sich ein Bild von der Lage machen könnten. Klar ist nach den Berichten der vergangenen Tage wohl nur: Libyen ist nicht frei. Noch nicht. Die Umstürze in den beiden Nachbarländern waren wohl der Katalysator für den Aufstand gegen den selbsternannten Revolutionsführer Gaddafi, als Blaupause für den Erfolg der Demokratiebewegung in Libyen können sie nicht dienen, denn anders als in den Nachbarstaaten scheint Machthaber Muammar al-Gaddafi wild entschlossen, seine Herrschaft mit aller ihm zur Verfügung stehenden Gewalt zu verteidigen.

Der bizarre, 22 Sekunden lange Auftritt im staatlichen Fernsehen am Montagabend ist das einzige authentische Dokument für die Bedrängnis, in der sich Gaddafi wähnen muss. Weil ein Mitarbeiter der Botschaft in Peking das Gerücht in die Welt gesetzt hat, Gaddafi sei aus Tripolis nach Venezuela geflohen, stellt sich der Diktator unter einen Regenschirm, und verkündet er sei nicht in Venezuela.

Günter Meyer, Leiter des Zentrums für Forschung zur Arabischen Welt an der Universität Mainz, glaubt ohnehin nicht, dass Gaddafi eine Flucht ernsthaft in Erwägung zieht: "Gaddafi ist aus einem anderen Holz geschnitzt als Hosni Mubarak oder Ben Ali, das hat er schon in der Vergangenheit oft bewiesen. Er hat keine Skrupel, auf sein Volk zu schießen. Seine Devise lautet: 'Entweder ich töte, oder ich werde getötet.'"

Das hat auch Saif al-Islam, einer der Söhne Gaddafis, längst verinnerlicht: "Ich spreche zum letzten Mal zu euch, bevor die Waffen sprechen", wandte er sich an die Demonstranten. "Ströme des Blutes werden dann in ganz Libyen fließen."

Nachdem es zunächst danach aussah, als würde die Herrscherfamilie Gaddafi mit ihrer Gewaltstrategie auch diese Revolte glimpflich überstehen, mehren sich nun die Anzeichen dafür, dass der Sturz des Regimes in greifbare Nähe gerückt ist.

Besonders im Osten gelingt es der Opposition offenbar zunehmend, die Kontrolle über die Region zu gewinnen. Augenzeugen berichten, dass sich viele Demonstranten bewaffnet haben.

Nachdem am Montag die Proteste auch auf Tripolis übergesprungen waren, gab es am Dienstagmorgen zur Lage in der Hauptstadt unterschiedliche Angaben. Wegen heftigen Regens blieben offenbar viele Menschen zu Hause. "Ich befinde mich im Osten von Tripolis und kann keine Zusammenstöße erkennen", wird ein Anwohner zitiert. Andere berichten weiter von Schüssen und Kampfflugzeugen.

Das Problem der Opposition

Gaddafi dürfte aber nicht nur den Druck von der Straße als Bedrohung empfinden. Der Revolutionsführer hat den für seine Macht im Land entscheidenden Rückhalt durch die Stämme verloren. Alle wichtigen Stammesführer haben sich inzwischen von Gaddafi abgewandt. Die Scheichs drohen mit dem Stopp von Erdöllieferungen und mit offenen Widerstand. Am deutlichsten wurde bislang das Oberhaupt des mächtigen Warfalla-Stammes. "Wir sagen zu Bruder Gaddafi, du bist kein Bruder mehr. Wir sagen, du sollst das Land verlassen", wird Akram al-Warfalli zitiert.

Die Stämme wiederum bilden auch das Fundament für das Militär. Libyen-Experte Meyer ist sich deshalb sicher, dass sich Gaddafi nicht mehr auf seine Armee verlassen kann. Dafür gibt es mehrere Indizien: Offiziere haben sich inzwischen offen auf die Seite der Demonstranten gestellt und Piloten weigern sich, den Schießbefehlen auf Demonstranten zu Folgen. Gaddafis Not ist inzwischen offenbar so groß, dass er auf Söldner aus anderen afrikanischen Ländern angewiesen ist. Im Netz kursieren Videos, die zeigen, dass Söldner von Demonstranten gefangen und gelyncht wurden.

Doch Gaddafi verfügt nach wie vor über eine funktionierende Machtbasis. "Ich bin mir nicht so sicher, dass das Regime Gaddafi schon am Ende ist", sagt Günter Meyer. Gaddafi hat während seiner 41 Jahre dauernden Regentschaft aus seinem Stamm heraus ein dichtes Netz loyaler militärischer Gruppen aufgebaut. "Der Gaddafi-Clan hat führende Posten überall in den Sicherheitskräften und in den Geheimdiensten, es gibt eine treue Präsidentengarde und weitere Spezialeinheiten, die die Gaddafi-Söhne Mutasim und Khamis aufgebaut haben", so Meyer.

Zu welcher Gewalt die Gaddafi-Getreuen imstande sind, können Beobachter derzeit nur erahnen. Die Internationale Koalition gegen Kriegsverbrechen berichtet von bislang 519 Toten, 3980 Verwundeten und 1500 verschwundenen Personen. Damit wären in Libyen bereits jetzt mehr Menschen ums Leben gekommen, als bei den Aufständen in Ägypten und Tunesien.

Dennoch deutet derzeit viel darauf hin, dass die Demonstranten sich von der Gewalt nicht abschrecken lassen. "Die Bewegung ist geeint durch den Wunsch, die Regierung Gaddafi zu stürzen", sagt Mayer. Doch viel mehr eint die Opposition nicht. In Libyen bestehen über das Allgemeine Volkskomitee hinaus kaum politische Strukturen, oppositionelle Gruppierungen werden unter Gaddafis Herrschaft unterdrückt. "Die Muslimbruderschaft wird sich rasch organisieren und die Stammesführer werden an Bedeutung gewinnen und ein wichtiges Wort mitreden bei der Bildung einer neuen libyschen Regierung", vermutet Meyer. Ein weiteres Problem der Bewegung in Libyen sieht Meyer darin, dass es anders als in Ägypten keine herausragenden Köpfe gibt. "Es müssen von unten herauf neue Strukturen entstehen, deren tatsächliche Form jetzt schwer abzusehen ist."

Leichter abzusehen ist, welche Folgen die Lage in Libyen für die Europäische Union hat: Es werden mehr Flüchtlinge in Malta und auf Lampedusa stranden. Gaddafi drohte der EU bereits damit, die Flüchtlingsströme aus Afrika nach Europa nicht länger abzufangen, sollte die Europäsche Union prodemokratische Demonstrationen weiter ermutigen.

Die CDU dringt deshalb schon jetzt auf schärfere Grenzkontrollen. "Der laufende Einsatz der Grenzschutzagentur Frontex im Mittelmeer reicht nicht aus", sagte Unions-Sicherheitsexperte Hans-Peter Uhl (CSU) der Neuen Osnabrücker Zeitung. "Europa muss unverzüglich eine schlagkräftige Küstenwache aufbauen, die Flüchtlinge an den EU-Außengrenzen verlässlich abfängt."

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