Einwanderungsdebatte in den USA:Die Causa Americana

Amerika ist ein Einwanderungsland. Die Regelung der Immigration berührt die amerikanische Seele. Weil Arizona nun die Schotten dicht machen will, muss das Oberste Gericht eine Entscheidung fällen.

Christian Wernicke

Merkwürdig altmodisch klingen die Worte. Und doch zählen die Zeilen, auf einer Bronzetafel am Fuße der Freiheitsstatue verewigt, zu den Gründungsmythen der Vereinigten Staaten: "Gebt mir Eure Müden, Eure Armen", ruft Miss Liberty, "Eure geknechteten Massen, die sich sehnen, frei zu atmen". Die grüne Lady, aufgestellt anno 1886 und bis heute das mächtigste Symbol der amerikanischen Nation, verheißt Rettung den Heimatlosen, allen "vom Sturm Getriebenen" weist sie per Fackel den Weg in die Neue Welt: "Hoch halt' ich mein Licht am goldenen Tor!"

People march to protest against Arizona's controversial Senate Bill 1070 immigration law in Phoenix

In den USA fordern die Nachfahren von Abenteurern und Verfolgten, dass keiner mehr rein darf. Die Verfolgten von heute wehren sich.

(Foto: REUTERS)

Jede Nacht erstrahlt die Freiheitsstatue im Hafen von New York. Im Herzen Amerikas jedoch ist jener Geist, den ihre lodernde Fackel versinnbildlichen soll, längst erloschen. Amerika, das Einwanderungsland, ist versucht, seine goldenen Tore zugeschlagen. Die Nachfahren von Wirtschaftsflüchtlingen, Abenteurern und Verfolgten verschließen ihr Land. Sie tun dies sehr handfest, indem sie ihre Südgrenze mit Mauern und Zäunen, per elektronischer Detektoren und Luftüberwachung verrammeln. Und ebenso verschließen sie ihren Kopf: Die Debatte darüber, wie viele (und welche) Neuankömmlinge Amerika in Zukunft aufnehmen will, ist zu einer gedanklichen Abwehrschlacht verkommen. Zwölf Millionen Illegale im Land sind, zumal in Zeiten allgemeiner Krise und hoher Arbeitslosigkeit, vielen zur Bedrohung, ja zum Feind im Innern geworden. "Schotten dicht", verlangt Volkes Stimme.

Eine einsame US-Richterin im Bundesstaat Arizona hat die Nation nun zur Ordnung gerufen. Per einstweiliger Verfügung mahnte Judge Susan Bolton zur Vernunft. Zwar anerkennt sie, dass an der mexikanisch-amerikanischen Grenze der Notstand herrscht, weil weder Grenzpatrollien noch Nationalgardisten der vielen Drogenhändler und Menschenschmuggler Herr werden. Zugleich aber erinnert sie ihre Landsleute (und vor allem jene Politiker, die auf dem Feuer öffentlicher Empörung ihr Süppchen kochen) daran, dass Amerika laut Verfassung all seinen Mitbürgern Freiheit und Gleichheit vor dem Gesetz verspricht.

Also hat die tapfere Richterin nun dem Bundesstaat Arizona ein Gesetz aus der Hand geschlagen, das im Kern sämtliche Latinos diskriminiert hätte. Die (meist sehr weißen) Autoren dieses legalistischen Machwerks schworen zwar jeden Eid, ihr Vorstoß sei keinesfalls von rassischen Ressentiments getragen gewesen. Aber in der Wirklichkeit wäre nur das braune Drittel von Arizonas Bevölkerung den vermehrten Polizeikontrollen, den Festnahmen oder der strafbewehrten Auflage ausgesetzt gewesen, immer und jederzeit einen Ausweis bei sich zu tragen. Genau deshalb begannen zuletzt ja sogar US-Staatsbürger und legale Einwanderer hispanischer Herkunft zu grübeln, ob sie Arizona verlassen und ihr Glück anderswo in den USA suchen sollten. Nur hätte ihnen diese Flucht wenig genutzt: 17 andere US-Bundesstaaten erwägen, Gesetze nach dem hässlichen Vorbild Arizonas zu schmieden.

Zwischenruf aus Phoenix

Das macht den Zwischenruf aus Phoenix umso wichtiger. Richterin Bolton hat der Politik Zeit geschenkt - viel Zeit, denn schon jetzt ist klar, dass sich dieser prinzipielle Rechtsstreit um Sicherheit (nach außen) und Freiheit (im Innern) durch die Instanzen ziehen wird. Wahrscheinlich landet der "Fall Arizona" irgendwann beim Supreme Court in Washington. Dort gehört er hin, schließlich beraten die neun Verfassungsrichter dann - als "Causa americana" - über die künftige Identität der Nation.

Amerikas Immigrationsdebatte ist anders, muss leidenschaftlicher und grundsätzlicher sein als Europas Gefeilsche um Schengener Visa-Standards und polizeirechtliche Zugriffsregeln. Die alte Welt, traditionell eine Auswanderer-Region, hat sich so seit den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts zur Festung Europa hochgerüstet. Amerika kann das so nicht tun, jedenfalls nicht ohne Verrat an sich selbst und seiner Geschichte. Auch deshalb ringen die Parteien in Washington nun schon seit zehn Jahren um eine umfassende Reform des Einwanderungsrechts. Kläglich sind sie bisher gescheitert - und doch haben sie sich bisher ehrenvoller geschlagen als die weltvergessenen Abschottungspolitiker der Europäischen Union.

Amerika fällt der Kompromiss schwer. Und er wird jedes Jahr schwerer, weil versteckt hinter dem Streit um ein neues Immigrationsrecht die Frage nach dem Antlitz der Nation lauert: Wie bunt, und wie braun gefärbt will Amerika künftig sein? Längst leben in den USA mehr Latinos als Afro-Amerikaner. In vielen Großstädten, allen voran in Texas und Kalifornien, gewinnen die Nachfahren mexikanischer Landarbeiter den Verdrängungswettbewerb gegen die Urenkel der Sklaven. Und die nächste, noch grundsätzlichere Verwandlung Amerikas zeichnet sich bereits ab: Vor Mitte dieses Jahrhunderts werden die Weißen, mithin der US-Gründerstamm, zur Minderheit im Land. Die Mehrheit bilden dann, zusammen genommen, alle Minderheiten. "Miss Liberty" hat das nie kommen sehen. Sie rief ihr Freiheitsversprechen ja seit jeher in Richtung Osten, nach Europa. Wie viel davon auch gegenüber dem Süden gelten soll, das müssen ihre Amerikaner erst noch herausfinden.

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