Chaostage der SPD:Steinmeier will nicht SPD-Chef werden

Die SPD ist im offenen Zerfallsprozess. Der letzte Stand: Ex-Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier will nicht Parteichef werden, Generalsekretär Heil tritt ab, Ex-Finanzminister Steinbrück nicht mehr an - und Sigmar Gabriel und Andrea Nahles sind Teil des derzeit heißesten Gerüchts.

Thorsten Denkler, Berlin

48 Stunden nach der Schock-Wahl zum Bundestag ist die Parteispitze der SPD mitten drin im Zerfallsprozess. Die Ereignisse überschlagen sich.

Steinmeier, dpa

In der Kritik: Frank-Walter Steinmeier

(Foto: Foto: dpa)

Wie sueddeutsche.de aus Fraktionskreisen erfuhr, verzichtet Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier auf eine Kandidatur für den Parteivorsitz. Er machte während der SPD-Fraktionssitzung deutlich, dass er nicht Parteichef werden wolle. Der noch amtierende SPD-Vorsitzende Franz Müntefering bestätigte seine Absicht, auf dem Parteitag Mitte November in Dresden sein Amt aufzugeben. Bis dahin wolle er noch den Übergang organisieren.

Zuvor verkündete bereits SPD-Generalsekretär Hubertus Heil, auf dem Parteitag der SPD im November nicht erneut für das Amt zu kandidieren. Das war wenig überraschend - Heil war mit Münteferings zweitem Amtsantritt vor einem Jahr praktisch entmachtet worden. Zuletzt durfte er noch Regionalzeitungen Interviews geben.

Auch Peer Steinbrück räumt seine Position an der Parteispitze als stellvertretender Vorsitzender und kandidiert nicht mehr. Auf die Frage eines Journalisten, ob die Partei nicht eine "Granate" wie ihn noch brauche, entgegnete Steinbrück, er sei sich wohl bewusst, dass mancher in der Partei ihn als Granate wahrnehme. Er habe aber keine Befürchtung, dass andere Genossen in der Opposition seine Rolle übernehmen könnten. In Anspielung an Goethes Faust sagte Steinbrück: "Vom Eise befreit sind Strom und Bäche".

Nun gelten Vizechefin Andrea Nahles und Umweltminister Sigmar Gabriel als Aspiranten auf den Chef-Sitz. Nach dem Desaster Bundestagwahl ist bei der SPD alles möglich.

Das Ergebnis der SPD von 23 Prozent ist nicht nur das mit Abstand schlechteste seit Gründung der Bundesrepublik 1949. Der Politologe Franz Walter sieht die Partei schon zurückgeworfen auf das Jahr 1893 - kurz nach Aufhebung der Sozialistengesetze -, als sie bei den Reichstagswahlen auch nur bei 23,3 Prozent landete. Dies, nur um die Dramatik deutlich zu machen.

Alles soll jetzt anders werden: Das beginnt mit den Inhalten wie Hartz IV und Rente mit 67 und endet nicht mit dem Personal. Als Erster hatte sich am Morgen der linkslastige Landesverband Berlin mit einer ziemlich eindeutigen Resolution zu Wort gemeldet. Der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit, der an der Sitzung am späten Montagabend teilgenommen hatte, konnte nicht verhindern, dass darin der Austausch der kompletten Parteispitze gefordert wird.

In der Resolution heißt es, dass wesentliche Akteure der SPD wie Steinmeier, Steinbrück und Franz Müntefering untrennbar mit der Agenda-Politik und der großen Koalition verbunden seien. Bei der "notwendigen Neuaufstellung" der SPD sei daher "ein glaubwürdiger Neuanfang nur möglich, wenn es auch zu personellen Veränderungen an der Parteispitze kommt".

Dass Müntefering nicht mehr antreten wird im November, hat er am Tag nach der Wahl de facto selbst schon verkündet - und jetzt auf der Fraktionssitzung nochmals bestätigt. Alles andere wäre auch kaum zu erklären. Müntefering hat die Partei mit harter Hand regiert. Basta-Gehabe werfen ihm manche vor. Vor allem deshalb, weil er jede größere Diskussion über die Agenda 2010 oder die Rente mit 67 im Keim erstickte. Finanzminister Peer Steinbrück hat auch schon angedeutet, nicht länger als Vize-Chef der Partei arbeiten zu wollen.

Spitzenkandidat Steinmeier hingegen ist als Fraktionschef nahezu unumstritten. Ihm wird von den wenigsten eine Mitschuld an dem Debakel gegeben. Viele sind einfach "dankbar, dass er die Kandidatur übernommen hat".

Am Montag hatten offenbar interessierte Kreise noch die Meldung lanciert, Steinmeier werde Parteichef, das sei praktisch beschlossen. Die Wirklichkeit sieht anders aus.

"In der Ruhe liegt die Kraft"

Einige Linke in der Partei mussten noch schlucken, dass Steinmeier Fraktionschef wird - eine offenbar im kleinen Kreis getroffene Entscheidung. Sie wollten ihm nicht auch noch das höchste Parteiamt überlassen. Zum anderen verdichteten sich Gerüchte, Steinmeier selbst wolle das Amt gar nicht, sondern sich lieber auf die Rolle des Oppositionsführers und Treibers der schwarz-gelben Koalition konzentrieren.

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Selbst die konservativen Seeheimer schienen nicht darauf zu drängen, die Kräfte bei einer Person zu bündeln. Johannes Kahrs, bisher Sprecher des Seeheimer Kreises, jedenfalls glaubt, es sei Steinmeier "nicht zuzumuten" beides zu machen, warnt aber zugleich vor allzu aufgeregten Debatten um Münteferings Nachfolge: "In der Ruhe liegt die Kraft."

Wer es letztlich machen soll, darüber schweigen sich die Genossen aus. Alle wissen: Die Namen, die zuerst genannt werden, sind verbrannt, bevor sie vollständig ausgesprochen wurden. Das könnte auch für Noch-Umweltminister Sigmar Gabriel gelten, der in neuesten Meldungen als heißester Kandidat auf den Parteivorsitz gehandelt wird.

Den Gerüchten zufolge sollen sich an diesem Dienstag Gabriel und Andrea Nahles bei einem Geheimtreffen über die Frage Parteivorsitz augetauscht haben. Beide mögen sich nicht sondelioch. Dennoch wird hartnäckig gestreut, sie seien sich einig: Gabriel übernähme den Vorsitz, Nahles werde Generalsekretärin.

Wie das funktionieren soll zwischen den beiden, wissen aber auch diejenigen nicht zu sagen, die das Gerücht weitertragen. Machttechnisch ginge es schon. Wenn die die Parteilinke und die Netzwerker, zu denen Gabriel gehört, einig sind, werden die Seeheimer wenig dagegen machen können.

Entgültig dürfte die Entscheidung nicht sein, selbst wenn Gabriel und Nahles sich einig wären. Die wichtigen SPD-Flügel im Bundestag wie die Seeheimer, die pragmatischen Netzwerker und die Linken sind erst noch dabei, sich neu zu konstituieren. Den Seeheimern etwa ist ihr zweiter Sprecher Klaas Hübner abhandengekommen. Er konnte sein Direktmandat nicht gewinnen und die Liste zog nicht.

Den Netzwerkern wiederum fehlt Ko-Sprecherin Nina Hauer - und die Linken haben mit Michael Müller und Niels Annen ihre profiliertesten Fürsprecher verloren. Vom Eise befreit...

Das mag auch ein Grund sein, weshalb die "eruptiven Kräfte", die ein führender Sozialdemokrat vor der Wahl befürchtete, falls das Ergebnis unter 25 Prozent liegen würde, noch nicht ausgebrochen sind. Bis auf Berlin halten sich die anderen Landesverbände bedeckt oder ziehen selbst Konsequenzen aus den unterirdischen Ergebnissen. In Baden-Württemberg hat die Landesvorsitzende Ute Vogt, einst Nachwuchshoffnung der SPD, angedeutet, ihren Hut nehmen zu wollen. In Hamburg ist Landeschef Ingo Egloff bereits zurückgetreten.

In Nordrhein-Westfalen, wo im kommenden Frühjahr für die SPD schon beinahe so etwas wie Schicksalswahlen zum Landtag anstehen, will die SPD-Landesspitze vor allem ihre Landes- und Fraktionschefin Hannelore Kraft stärken. Sie wird sich um einen Posten als stellvertretende Vorsitzende der Bundespartei bewerben. Seine Kritik an der Bundesspitze hat der Landesvorstand eher zurückhaltend formuliert: Die SPD müsse ihre "Kernkompetenz als Partei der sozialen Gerechtigkeit" wieder stärken, um Vertrauen zurückzugewinnen.

Viele Stimmen sind sich einig: Die Niederlage von Sonntag geht nicht allein auf das Konto von Steinmeier oder Müntefering, obwohl Letzterer da für einige schon eher in Betracht käme. Diese Niederlage geht die SPD in ihrer gesamten Breite an.

Es liegt also eine gespannte Ruhe über der Partei. Unterbrochen nur von vereinzelten Blitzen, die wohl helfen sollen, ein wenig von der Spannung abzubauen, bevor es zu einem Gewitter kommt.

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