Tschernobyl: Das Leiden der Helfer:"Wir wollten Helden sein"

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Die Arbeit der Tepco-Mitarbeiter im AKW Fukushima-1 erinnert an die Liquidatoren von Tschernobyl. Nach der Explosion im Block 4 schickte Moskau Hunderttausende in die Todeszone. Viele dieser Helden sind tot - andere bleiben mit ihren Schmerzen allein.

Matthias Kolb

Unser Regiment wurde alarmiert. Erst auf dem Belorussischen Bahnhof in Moskau wurde uns mitgeteilt, wohin wir gebracht werden. Einer, ich glaube, er war aus Leningrad, protestierte. Man drohte ihm mit Militärgericht. Der Kommandeur sagte vor der Truppe: "Du landest im Gefängnis oder wirst erschossen." Ich hatte andere Gefühle. Umgekehrt: Ich wollte Heldentaten vollbringen.

Gedenken an die Helden: In der ukrainischen Stadt Slawutitsch, 120 Kilometer von Kiew entfernt, legen Ukrainer Kerzen an einem Denkmal nieder, das an die verstorbenen Liquidatoren erinnert. (Foto: dpa/dpaweb)

Der Soldat Artjom Bachtijarow war im Frühjahr 1986 rund um den Unglücksreaktor von Tschernobyl im Einsatz. Er war einer von Hunderttausenden Liquidatoren. Wie viele damals bei der größten nuklearen Katastrophe aller Zeiten eingesetzt waren, ist bis heute unklar. Die Angaben schwanken zwischen 600.000 und 800.000 Menschen. Natürlich waren einige besorgt über die radioaktive Gefahr, doch die Mehrheit wusste, dass man als Soldat Befehlen gehorchen musste.

"Wir waren doch Kinder unserer Zeit und glaubten, wie wir es gelernt hatten, die sowjetischen Atomkraftwerke wären die sichersten der Welt, so sicher, dass man sie sogar auf den Roten Platz stellen könnte." So beschreibt die 1948 geborene weißrussische Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch ihre damalige Überzeugung.

Kaum jemand hat sich so intensiv mit den Folgen des Reaktorunglücks vom 26. April 1986 beschäftigt wie Alexijewitsch: Sie hat Hunderte Überlebende interviewt und deren Erinnerungen in dem 1997 erstmals erschienenen Buch Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft der Welt zugänglich gemacht. In diesem ebenso eindrucksvollen wie schockierenden Werk, aus dem fast alle Zitate dieses Texts stammen, schildert Artjom Bachtijarow seine Arbeit:

Jeder bekam einen weißen Kittel, eine weiße Mütze, einen Mundschutz aus Mull. Wir säuberten das Gelände. Einen Tag lang schrubbten und kratzten wir unten, einen Tag lang oben, auf dem Dach des Reaktors. Überall mit Schaufeln. Die oben arbeiteten, wurden "Störche" genannt. Roboter machten nicht mit, die Technik spielte verrückt. Aber wir arbeiteten. Und wir waren sehr stolz darauf ...

Es ist eine Mischung aus Unwissenheit und Naivität, welche die jungen Männer und Frauen damals antreibt. Viele Mitglieder der Jugendorganisation Komsomol fühlen sich geehrt, dass sie für diesen wichtigen Einsatz ausgewählt wurden, andere meldeten sich freiwillig. Die Weißrussin Anna Jemeljantschik war 19, als sie "in die Hölle" geschickt wurde, um ein Kaufhaus wieder in Betrieb zu nehmen. Kurz vor dem GAU in Japan schilderte Jemeljantschik einem Reporter der Berliner Zeitungdie Folgen des Einsatzes: Ihre Töchter sind krank, das Erbgut der Mädchen ist geschädigt und die Immunsysteme teils geschwächt.

Während es in Japan vor allem Ingenieure sind, die heldenhaft im Reaktor Fukushima-1 versuchen, die Katastrophe abzuwenden, verfügten nicht längst alle sowjetischen Liquidatoren über das entsprechende Know-how. Zwar waren jene Techniker, die nach der Kernschmelze wegen der hohen Strahlenbelastung den Reaktor nur für 70 Sekunden hätten betreten dürfen, ebenfalls Experten. Doch gerade für die einfachen Soldaten waren die Schutzvorkehrungen sehr gering - und die Generäle griffen nicht ein, als Frauen die kontaminierten Kleider der Liquidatoren mit den Händen reinigten. An Waschmaschinen hatte niemand gedacht.

Ein paar Tage später wurden irgendwelche Gasmasken ausgegeben, aber keiner benutzte sie. Strahlenmessgeräte zeigte man uns zweimal, aber keiner bekam sie in die Hand. Alle drei Monate durften wir für ein paar Tage nach Hause. Jeder bekam den Auftrag, Wodka zu kaufen. Ich schleppte zwei Rucksäcke voll Flaschen an. Die Jungs warfen mich vor Freude in die Luft.

Alkohol als Mittel gegen alle Leiden: Der Fotograf Igor Kostin, der die vermutlich einzige erhaltene Aufnahme des zerstörten Unglücksreaktors machte, erinnerte sich 2006 in einem Interview mit der Zeitschrift Osteuropa: "Uns wurde gesagt, wir sollten Wodka trinken. Denn die Radioaktivität sollte sich zuerst in den Schilddrüsen sammeln. Das wurde uns dort regelrecht als Rezept gegeben: ein halbes Glas Wodka auf zwei Stunden Tschernobyl."

Wer die Berichte der Liquidatoren liest, dem zeigt sich jenes für die Spätphase der UdSSR so bezeichnende Chaos. In welcher Situation die Generäle ihren Soldaten Informationen verschwiegen, wann sie selbst über unzureichendes Wissen verfügten und wo Schlamperei zum Tod vieler Menschen führte, ist nicht mehr zu ermitteln. Mitunter aßen Ärzte und Vorgesetzte gemeinsam mit den Soldaten, während andere Mediziner ihre Speisen stets selbst mitbrachten.

Selbst Parteichef Michail Gorbatschow wurde erst spät über das wahre Ausmaß des Unglücks informiert - und zögerte selbst, diese Informationen weiterzugeben. Den Grund für Gorbatschows Lavieren nannte sein Biograph György Dalos in einem Interview mit sueddeutsche.de: "Die Sowjetbürger waren an schlechte Nachrichten nicht gewöhnt: In den Medien wurde nicht über Flugzeugabstürze und Naturkatastrophen berichtet."

Ein Denkmal erinnert nahe der Sperrzone von Tschernobyl an die Hunderttausenden Liquidatoren. (Foto: dpa)

Die Reaktion der Eliten in Moskau offenbarte die Ratlosigkeit: Man setzte Kriegsgerät ein, verlegte Jagdbomber und Hubschrauber in die Ukraine. Anders als in Japan brach man den Einsatz nicht ab, um die Piloten zu schonen - und auch unter ihnen waren viele Männer, die sich beweisen wollten und zuvor in Afghanistan im Einsatz gewesen waren.

Fahren oder nicht fahren? Fliegen oder nicht fliegen? Ich bin Kommunist, wie konnte ich nein sagen? Zwei Piloten haben sich geweigert, sie hätten junge Frauen, noch keine Kinder, man belachte sie, bestrafte sie. Die Karriere war im Eimer! Die männliche Ehre spielt ja auch noch eine Rolle! Das Ehrengericht! Es war auch Trotz dabei, verstehen Sie - er konnte nicht, aber ich gehe!

Die Liquidatoren kamen aus allen Sowjetrepubliken, aus Kasachstan, Armenien, Russland, der Ukraine oder Weißrussland. Wer Familie in Moskau oder St. Petersburg hatte, wusste noch am ehesten über die Gefahren der Radioaktivität Bescheid.

Doch gerade jene jungen Familien, die in die heutige Geisterstadt Pripjat gezogen waren, weil das "Tschernobyler Atomkraftwerk W. I. Lenin" Arbeitsplätze bot, blickten optimistisch in die Zukunft und waren voller Enthusiasmus. Diese heile Welt zerbrach für viele - besonders schlimm traf es die Feuerwehrleute, die zu den ersten gehörten, die den Unglücksort erreichten. Der Ehemann von Ludmila Ignatenko war einer von ihnen.

Sie versuchten, die Flammen zu löschen, schoben den brennenden Graphit mit den Füßen vom Dach ... Sie waren ohne die Segeltuchmonturen gefahren und hatten nur Hemd und Hose an. Man hatte ihnen nichts gesagt, sie waren zu einem normalen Feuerwehreinsatz geholt worden.

Die damals 23-Jährige folgte ihrem Wassili bis nach Moskau, wo er mit seinen Kollegen in einer Spezialklinik behandelt wurde. Einige Ärzte und Pfleger machen ihr deutlich, dass der Tod ihres Mannes unvermeidlich ist, doch Ludmila blieb bei ihm.

Sie war im sechsten Monat schwanger und glaubte weiterhin an die Kraft der Liebe, obwohl sich ihr Wassili, ein vor Kraft strotzender junger Mann, vor ihren Augen nahezu auflöste.

Ich habe das Laken jeden Tag gewechselt - abends war es blutgetränkt. Wenn ich ihn anhob, blieben an meinen Händen Hautfetzen von ihm zurück.

Ludmila Ignatenko, deren Tochter Natascha vier Stunden nach der Geburt starb, berichtet von einer großen Hilfsbereitschaft ihrer Bekannten, bei denen sie in Moskau wohnte. Alle Töpfe habe sie benutzen dürfen, um ihrem Mann und seinen Kameraden Essen kochen zu können. Die Angst und Skepsis in der Gesellschaft wächst: Die mehr als 300.000 Menschen aus den evakuierten Städten und Dörfern werden in separaten Wohnheime oder Siedlungen untergebracht.

Auch die Liquidatoren beginnen nach ihrer Rückkehr, den Einsatz zu verschweigen: Sie finden nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion keine Arbeit mehr und gerade die jungen Männer leiden darunter, dass sie zwar überlebt haben - aber oft keine Partnerin finden.

Ich kam nach Hause, ging tanzen. Ein Mädchen gefiel mir. "Ich möchte dich näher kennenlernen." "Wozu? Du warst in Tschernobyl. Von dir hätte ich Angst, ein Kind zu bekommen."

Belastbare Daten über die Liquidatoren und die Folgen des Einsatzes auf deren Körper und Seelen sind kaum zu finden. Die offiziellen Daten der Internationalen Atomenergieagentur gehen von 48 Strahlenopfern und bis zu 4000 Toten als Langzeitfolge aus. Die Umweltorganisation Greenpeace schätzt die Zahl der Menschen, die infolge der Katastrophe umkamen, auf bis zu 93.000

Bereits 2006 schrieb Sebastian Pflugbeil, der Präsident der Gesellschaft für Strahlenschutz und Chef der Hilfsorganisation "Kinder von Tschernobyl", dass etwa die Hälfte der Liquidatoren "ohne Belege, ohne registriert worden zu sein, ohne ihre Strahlendosis zu kennen, irgendwohin in ihre Heimat entlassen wurden".

Dies führte nicht nur dazu, dass die Zahl der Toten und Erkrankten gering blieb, sondern auch dass diese Menschen keine adäquate Betreuung erhielten, sondern dass ihnen auch die karge Invalidenrente verwehrt bleibt. In der Ukraine erhalten die Liquidatoren umgerechnet 143 Euro im Monat und nach Angaben des Verbands der Tschernobyl-Invaliden in Kiew haben viele ihrem Leben selbst ein Ende gesetzt oder leiden unter Depressionen oder Alkoholismus. Dagegen gelten die in Moskau lebenden Liquidatoren finanziell seit längerem als bessergestellt.

Unbestritten ist jedoch, dass die Zahl der Fälle von Schilddrüsenkrebs in der Ukraine und Weißrussland seit 1986 stark gestiegen ist. Auch das Risiko, an akuter lymphatischer Leukämie zu erkranken, lag laut Pflugbeil für Kinder aus den kontaminierten Regionen drei Mal höher als für Jungen und Mädchen aus anderen Regionen. Der Physiker Pflugbeil hat aus der Verknüpfung der sowjetischen Daten mit Angaben der entsprechenden UN-Gremien errechnet, dass insgesamt mit 264.660 zusätzlichen Krebstoten zu rechnen sei.

Die Bilder aus dem Fernen Osten und der anstehende 25. Jahrestag der Katastrophe bringen die Erinnerungen zurück: "Mein Mitgefühl ist mit den japanischen Menschen, keiner sollte so leiden wie wir", sagte Nina Majakowskaja am Rande einer Protestdemo in Kiew der dpa. Die 60-Jährige arbeitete damals als Direktorin eines Einkaufszentrums in der Nähe von Tschernobyl.

Swetlana Alexijewitsch beschämt es, dass die Menschen in Russland, der Ukraine und Weißrussland die Opferbereitschaft der Liquidatoren nicht höher wertschätzen. Auch in Westeuropa werde ihr Mut nicht ausreichend gewürdigt. Für die 62-Jährige steht ihr Urteil über die Liquidatoren fest.

Was also waren diese Menschen - Helden oder Selbstmörder? Opfer der sowjetischen Ideologie und Erziehung? Merkwürdigerweise gerät mit der Zeit in Vergessenheit, dass sie ihr Land retteten. Und Europa. Stellen wir uns nur einen Augenblick lang vor, wie es ausgesehen hätte, wären die drei anderen Reaktoren auch explodiert ... Sie sind Helden. Helden der neuen Geschichte. Man vergleicht sie mit den Helden der Schlacht um Stalingrad oder der Schlacht von Waterloo, aber sie retteten mehr als ihr Heimatland, sie retteten das Leben selbst. Lebenszeit. Lebendige Zeit.

Das Buch Tschernobyl: Eine Chronik der Zukunft der weißrussischen Autorin Swetlana Alexijewitsch ist im Berliner Taschenbuchverlag erschienen und kostet 9,90 Euro.

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