1. Mai: Krawalle in Berlin:"Wir haben alles erreicht"

Alle Jahre wieder: Linke werfen Flaschen, Mülleimer brennen, Wasserwerfer rücken an. Dennoch blieb es vergleichsweise ruhig. Die Linken sind zufrieden - sie haben die Nazi-Demo blockiert.

Johannes Boie, Berlin

Sie freuen sich. "Ein Bulle, ein Bulle", skandiert die Menge in Kreuzberg, als klar wird, dass der, der da im Scheinwerferlicht auf dem Pflaster liegt, kein Straßenkämpfer ist, sondern ein Polizist. Dreißig, vielleicht vierzig Beamte schützen ihren verletzten Kameraden.

1. Mai: Krawalle in Berlin: Alle Jahre wieder: Ein linker Krawallmacher schleudert in Kreuzberg eine Flasche auf die Berliner Polizisten.

Alle Jahre wieder: Ein linker Krawallmacher schleudert in Kreuzberg eine Flasche auf die Berliner Polizisten.

(Foto: Foto: Reuters)

Eine Ärztin kämpft sich durch die Menschenmenge. Sie trägt, wie die Polizisten, einen großen Helm und Kampfmontur. Rhythmisch erhellt das Scheinwerferlicht des Notarztfahrzeuges die Wiener Straße und die Nacht. Als wäre es das Stroboskop zur lauten Technomusik, welche die Friedlichen unter den Demonstranten hundert Meter weiter abspielen.

Die Verletzung des Polizisten gehört in der Berliner Mainacht zu den schlimmsten Zwischenfällen. Insgesamt blieb die Nacht vor allem im Vergleich mit den schweren Ausschreitungen vom Vorjahr eher ruhig - bereits gegen Mitternacht und damit deutlich früher als zuvor war die Gewalt eingedämmt.

Die Polizei, die mit 7000 Beamten aus dem ganzen Bundesgebiet im Einsatz war, hatte die Lage durchgehend unter Kontrolle.

Schon am Vormittag des 1. Mai wollten etwa 450 Neonazis durch den Stadtteil Prenzlauer Berg marschieren. Die Polizei trennte linke Gegendemonstranten und ankommende Nazis am S-Bahnhof Bornholmer Straße. Das war nicht immer einfach, weil autonome Linke und Rechtsradikale ähnlich aussehen: schwarzer Kapuzenpullover, breite Sonnenbrille, Turnschuhe sowie Kappen mit zahlreichen Buttons.

Neonazis in Prenzlauer Berg gestoppt

Die Nazidemo sollte um elf Uhr starten, aber es dauerte Stunden, bis sich genügend Rechte eingefunden hatten, um loszumarschieren. Vorab stammelte Neonazi-Boss Christian Worch noch eine Rede, die allerdings von den lauten Boxen der Anwohner mit Bob Marley locker übertönt wurde: "So while you point your fingers / someone else is judging you." Es war also wenig von Worch zu hören.

Dafür waren es dann einige Stunden später in Kreuzberg nicht mehr die Rechts-, sondern die Linksradikalen, die "den Kapitalismus" abschaffen, "das System" stürzen und eine "sozialere Gemeinschaft" wollten. Vor ihrem jährlichen Krawallmarsch war die Stimmung ausgelassen. Die Linken freuten sich, weil es ihnen am Morgen gelungen war, die Nazis in Prenzlauer Berg zu stoppen. Die Rechten durften zwar losmarschieren, mussten aber umdrehen. In den Weg setzte sich ihnen auch Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD).

Die Polizei trug mehr oder weniger pro forma ein paar linke Demonstranten von der Straße. Zurück blieben Flugzettel der Gewerkschafz verdi ("Blockieren ist unser Recht") und der ungebrochene Wille der Antifa, keine Nazimarsch in Prenzlauer Berg haben zu wollen. Irgendwann gaben die Polizisten auf - und die Rechtextremen mussten umkehren.

Der Auftritt der Nazis war kurz, verspätet und lächerlich klein gewesen. Auch deshalb, weil sich Berliner Rechte nicht an den Plan gehalten hatten, und statt in Prenzlauer Berg an den Adenauerplatz im Westen der Stadt gefahren waren. Offensichtlich hatten sie vor, den Ku'damm aufzumischen. Viele von ihnen wurden festgenommen.

"Alles erreicht, was wir wollten"

Der Punktsieg für die Linken war auch einer für die Polizei. Die Nazis hatte man - wie gesetzlich vorgeschrieben - gewähren lassen. Aber die Linken durften gewinnen. Also war die Stimmung auch später in Kreuzberg gut, als die linken Autonomen unter sich waren. "Ich komme gar nicht mehr nach Kreuzberg", sagte einer aus der Szene am Telefon. "Wir haben doch in Prenzlauer Berg alles erreicht, was wir wollten."

Die Radikalendemo ab 18 Uhr zog zügig durch die Stadt - so zügig, dass es noch hell war, als die Demo zu Ende war. Letztes Jahr hatte es zum Ende der Demo bereits gedämmert, und in der einsetzenden Dunkelheit fliegen oft die ersten Flaschen auf Polizisten in Kreuzberg.

So mussten sich die Krawallmacher noch ein bisschen gedulden, und die Polizei nutzte die Zeit geschickt, um einzelne Gruppen zu zerstreuen. Die Taktik der Beamten war eindeutig. Sie wollten eine Konzentration aller Autonomen am Kottbusser Tor verhindern.

Diese Situation hatte im vergangenen Jahr zu einem Gewaltexzess geführt. Auch Linke-Politiker Kirill Jermak, der im vergangenen Jahr als Demo-Anmelder bekannt geworden war, spielte dieses Jahr lieber mit seinem Nokia-Smartphone als während der Demo die Stimmung anzuheizen.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie es der Polizei gelang, die Krawalle unter Kontrolle zu halten und wieso die Wasserwerfer nicht eingesetzt werden mussten.

Taktik der Polizei geht auf

Als dann gegen 20.30 Uhr, einige Zeit nach dem Ende der Demonstration, am Spreewaldplatz doch die ersten Steine fliegen, greifen die Polizisten blitzschnell durch. Wen sie beim Werfen filmen, verhaften sie.

1. Mai: Krawalle in Berlin: Einige Teilnehmer des Neonazi-Aufmarschs: Rein äußerlich sind rechte und linke Demonstranten schwer zu unterscheiden.

Einige Teilnehmer des Neonazi-Aufmarschs: Rein äußerlich sind rechte und linke Demonstranten schwer zu unterscheiden.

(Foto: Foto: dpa)

Dabei kommt es in mindestens einem Fall zu einer hässlichen Szene: Auf Youtube ist ein Handyvideo zu sehen: Es zeigt, wie Dutzende linke Demonstranten vor Polizisten wegrennen. Ein in schwarz gekleideter Mann fällt auf den Boden, mehrere Beamten laufen an ihm vorbei, einer fällt fast über den jungen Mann. Dann ist auf dem Handyfilm zu sehen, wie ein Polizeibeamter mit dem Fuß ausholt und den Kopf des Demonstranten trifft. In Internet-Foren und via Twitter wird der Vorfall erhitzt diskutiert.

Kurz darauf eskaliert die Situation. In der Wiener Straße geht der Polizist schwer verletzt zu Boden, die Stimmung ist aufgeheizt.

Platzverweise und Verhaftungen

Die Beamten verteilen Platzverweise, verhaften jetzt einen Randalierer nach dem anderen. "Wie heißt du?", rufen die anderen Linken den verhafteten Genossen hinterher. Die ganze Nacht über sind die Hilfstelefone linker Anwälte frei geschaltet, die per Telefon auf dem Laufenden gehalten werden, aus der Ferne Rechtsberatung vornehmen. Doch wer von einer Polizeitruppe wie der BFE (Beweissicherung und Festnahme) abgeführt wird, kann seinen Namen nicht mehr zurück rufen. Zu hart sind die Griffe der Beamten.

In der Nacht brennen noch ein paar Mülleimer, immer wieder werden Beamte von Flaschen getroffen. In der Kottbusser Straße entsteht ab 21 Uhr für Stunden ein gigantisches Katz- und Mausspiel. Unter die politisierten Autonomen haben sich jetzt Kreuzberger und Neuköllner Krawallkinder gemischt, die sich immer wieder Scharmützel mit der Polizei liefern. Dazwischen feiern Hunderte Schaulustige.

Wasserwerfer nicht eingesetzt

"Berlin is absolutely fun", schreit ein amerikanischer Tourist in sein Handy. Ein jugendlicher Angeber läuft Polizisten hinterher, beschimpft sie als "Weicheier". Als sich zwei der Beamten nur umdrehen, nimmt er die Beine in die Hand.

Immer wieder grenzen die Polizisten Menschengruppen von einander ab. So vermeiden sie, dass sich die Autonomen sammeln können. An der Kreuzung, an der die Kottbusser Straße auf den Kottbusser Platz trifft, fahren gegen 22:30 Uhr drei Wasserwerfer auf. "Nur eine optische Sperre", sagt ein Polizeisprecher. Auf Deutsch: die Demonstranten denken, sie könnten nicht mehr auf den Platz drängen - und bleiben von anderen Gruppen separiert.

Während in der Kottbusser Straße gegen Mitternacht die letzten Flaschen fliegen, sitzen andere Demonstranten schon zuhause vor dem Rechner. Auf Twitter schreiben sie, der verletzte Polizist sei in den Rücken gestochen worden. Das sei aber falsch, er sei von einem stumpfen Gegenstand mit hoher Wucht getroffen, sagen die Sprecher der Polizei. Mittlerweile ginge es ihm "den Umständen entsprechend gut", erklärt ein Sprecher.

Für den heutigen Sonntagnachmittag ist eine Pressekonferenz angekündigt - dort werde man die genaue Zahl der Festnahmen sowie weitere Einzelheiten bekannt geben. Das Fazit der Polizei ist jedoch klar: Es war deutlich ruhiger als 2009 und man habe die Lage unter Kontrolle gehabt.

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